Die Welt des Menschen ist eine sichtbare Welt, die ihm vollständig erscheint und doch nur partiell ist, sein kann.[1] Die Augen sind es, die uns die Dinge und einen Raum sehen lassen. Ihr Sehen ist eine Art „Habhaftwerden auf Entfernung“[2], Besitzergreifen von der Welt, das der Mensch intuitiv versucht, auf sein gesamtes Sein auszudehnen. Durch unseren subjektivierenden Bewusstseinsapparat überschreitet das Sehen das nur Gesehene bei Weitem. Es trifft auf Erfahrungen und Erwartungen und erhält eine individuelle „Zuordnung“, Verstehen, im „kollektiven Ganzen“. Die Alltagssprache des kollektiven Ganzen gibt den „Zuordnungen“ eine bestimmte sprachliche Abstraktionsebene. Kunst, Malerei, schaffen höhere Abstraktionsebenen, Meta-Transformationen des Gesehenen.
Teil unseres alltäglichen Denkens bleibt die Annahme unseres Bewusstseins, dass das, was ich sehe, absolut und situativ abschließend wahr ist.[3] Diese Annahme macht unmittelbar Sinn macht, da sie uns Sicherheit oder Festigkeit im Alltagsgeschehen suggeriert: eine quasi Gegenständlichkeit des bewusst Gesehenen, und im Nachgang Gedachten. Die Annahme unseres Bewusstseins, wir hätten unser näheres, gesehenes (besser zusätzlich gehörtes usw.) Umfeld im Griff oder zumindest verstanden, kann in der Folge wiederkehrend zu Schwierigkeiten führen. Die Tendenz des Denkens sich selbst, seine bewusst verarbeitete Wahrnehmung, absolut zu setzen, bereitet – in der Kollision gegenläufig gedachter Gegenständlichkeiten durch Andere – nicht nur in der Kommunikation mit den Anderen zu Problemen. Vielmehr hat das abschließende Denken selbst für sich selbst ein hohes Ausgrenzungspotential. Es droht, dass dem Bewusstsein vieles entgeht, was es nicht wahrnehmen will oder gewohnheitsmäßig verlernt hat, wahrzunehmen. Philosophisch betrachtet ist dieses Denken sogar falsch.
Die Wahrnehmung, das Sehen, ist nie ein reiner, objektiver „wahrer“ Prozess, der in reines Denken übergehen könnte. Selbst wenn hochpräzise Apparaturen messend „wahrnehmen“, verbleibt die „Abnahme“ der verfeinerten Wahrnehmung in dieser komplexen Körperlichkeit.[4] Die Wahrnehmung der Augen ist behaftet mit unserer Körperlichkeit und seinem Empfinden dafür, was Wirklichkeit ausmacht. Dieses geframte Bild und seine Endabnahme verbleibt subjektiv, vorgestellt, imaginiert.
„Das Imaginäre ist viel näher am Aktuellen und gleichzeitig viel weiter von ihm entfernt. Viel näher, weil es das Diagramm seines Lebens in meinem Körper ist, sein Mark oder seine innere Kehrseite, die erstmalig den Blicken ausgesetzt wird. … das imaginäre Gewebe des Wirklichen“[5]
Das Auge vermittelt uns einen bestimmten, unseren Eindruck, keinen beliebigen.
[1] Die von vornherein andere Wahrnehmung der vielen sehbehinderten oder gar blinden Menschen widerlegt diesen Satz nicht, sondern bewahrheitet ihn.
[2] Merleau-Pointy, Maurice, Das Auge und der Geist, Philosophische Essays; Rowohlt Verlag, Reinbeck bei Hamburg, 1967 , S. 19
[3] Siehe auch den Artikel „Was ist Wahrheit.“
[4] Der ganze Körper denkt mit. Sogar bestimmte Darmbakterien sind „bewusstseinsrelevant“.
[5] Merleau-Pointy, Das Auge und der Geist, S. 18