Immanuel Kant, der vor 300 Jahren, am 22.04.1724, in Königsberg in Ostpreußen geboren wurde, gilt als der einflussreichste Denker der deutschen, der globalen Aufklärung, einer der einflussreichsten Philosophen bis heute. Kant steht wie kein zweiter Philosoph für das Projekt der Aufklärung. Dieses bedeutete zu seiner Zeit die Infragestellung von Autorität und Tradition, aber auch die Ablehnung jedweder Schwärmerei, Irrationalität. Er befreite das Denken der Menschen von den Ansprüchen einer „gottgewollten“ feudalen Ordnung und der Dominanz religiöser Dogmatik. Die Aufklärung Immanuel Kants war der Durchbruch zur rationalen Individualität und Verantwortlichkeit jedes Menschen unabhängig von seiner Herkunft. Wer heute für die individuellen Menschenrechte auf Religionsfreiheit, Pressefreiheit, Meinungsfreiheit und sexuelle Selbstbestimmung eintritt – nur wer sein Denken mitteilen, vergleichen und nötigenfalls revidieren kann, konstituiert tatsächliche Freiheit -, steht auf den Schultern, den Denksystemen Immanuel Kants.
„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündig-keit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. … Sapere aude! Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.“ Formulierte Kant 1784 im Aufsatz „Was ist Aufklärung?“
Ein neues Verständnis einer methodisch gewonnenen Objektivität des Urteils, dass durch freie Individualität möglich wurde, breitete sich über die Denker der Aufklärung im gesellschaftlichen Ganzen aus. Es gelten objektive Methoden der Beurteilung, Erörterung, freie Zustimmung, eine alle Schichten und Stände übergreifende Verständigung. „…, dann verschwindet der Dunst, und ich erblicke die Wahrheit.“[1]
Die aufkommenden bürgerlichen Freiheiten entwickeln sich aus einem „Geist kultureller Erweckung“[2], entfesseln die Leistungsfähigkeit der Menschen mit der industriellen Revolution auch im Wirtschaftlichen – bis hinein in die Philosophie: „selbst das Denken kann in diesem Zeitalter der Arbeitsteilung ein besonderer Beruf werden. … Die Früchte des Scharfsinns werden auf den Markt gebracht und die Menschen bezahlen bereitwillig für alles, was zu ihrer Unterweisung oder ihrem Vergnügen dient.“[3]
Die Naturwissenschaften – dasjenige, was wir nach Kant von der Natur und uns überhaupt zu erkennen in der Lage sind – begründeten den analytischen Geist der modernen Welt, innerhalb dessen wir uns heute in den westlichen Gesellschaften weiterhin denken. „Follow the science“ gilt als Kampfbegriff globaler Klimaaktivisten, die annehmen, mit naturwissenschaftlichen Studienergebnissen unleugbare Vernunft-wahrheiten auf ihrer Seite zu haben. Die Ausdehnung der naturwissenschaftlichen Denkweise auf Moral, Recht, ökonomische Theorie, also auf die Natur der gesellschaftlichen Welt bildete ursprünglich einen wichtigen Punkt der geistigen Bewegung der Aufklärung.
Auch heute gilt in den westlichen Gesellschaften die Grundannahme der rationalen Auflösbarkeit aller menschlichen Herausforderungen. Wenn man sich nur hinreichend vernünftig den Problemen annähere und sie nach Maßgabe vermeintlich übereinstimmender Moralkategorien bewerte und bewege, müsse sich alles regeln lassen.
Die Erfahrungen der Katastrophen des 20. Jahrhunderts mit seinen zwei vernichtenden Weltkriegen, dem Nationalsozialismus und dem Kommunismus haben zum Einen die Grundannahme der Entwicklung der Menschheit aus Vernunfterwägungen heraus, gründlich beendet.[4] Es wird vielfach sogar davon ausgegangen, dass genau dieser naturwissenschaftlich unterlegte Rationalismus mit in die Katastrophen geführt habe.[5]
Zum Anderen haben die Erfahrungen tatsächlich lange Phasen rationaler Begründung kollektiven menschlichen Handelns nach sich gezogen, ja geradezu erzwungen (Vereinte Nationen, Europäische Union, schließlich Abrüstungsverträge u.v.a.m.). Ganz im Sinne eines „existentiellen Imperativs“ wie ihn Friedrich Nietzsche auf der Grundlage der Handlungen eines identischen menschlichen Wesenskerns im 19. Jahrhundert postulierte. Katastrophisches Handeln kehrt nicht wieder, weil der Mensch erfahren hat, dass er sonst seine Existenzgrundlage vernichtet.
Was ist, wenn sich diese Erfahrungen verflüchtigen oder schlicht in manchen Regionen der Welt nicht vorhanden sind? Die Moralprinzipien des kategorischen Imperativs beschreiben nur eine sehr eingeschränkte Möglichkeit menschlichen Handelns.
Die rationale Weltbetrachtung des Westens ist, auch im Westen, zu einer Chimäre, einer Illusion geworden (siehe Donald Trump, siehe den Eroberungskrieg Russlands in der Ukraine, siehe die Eroberungsgelüste Chinas gegen das abtrünnige Taiwan, siehe den Terror des politischen Islam). In den westlichen Gesellschaften verengen sich die Meinungskorridore durch totalitär anmutenden Moralgebote einer postmodernen, „woken“ Oberschicht. Die Meinungsfreiheit als Grundlage der Aufklärung, von rationaler Individualität und Verantwortlichkeit, schwindet – auch im Westen .
Wir sind über die Aufklärung hinaus. Ist die Aufklärung, die eigentliche Gottheit des bürgerlichen Zeitalters, tot? Brauchen wir eine neue – Aufklärung?
Einerseits habe der Mensch, so Immanuel Kant, das Bedürfnis etwas Absolutes und Unendliches als einen Urgrund zu denken. Anderseits ist dieses Absolute, so Kant, mit den Bordmitteln des menschlichen Erkenntnisvermögens nicht zu erkennen, das „Ding an sich“ verbleibt trotz hochmoderner Messinstrumente im Dunkeln. Die Gegenstände des Lebens richten sich nach unserem (eingeschränkten) Erkenntnisvermögen, danach wie wir zu Denken in der Lage sind.[6] Der graue (oder bunte) Zwischenraum, dieser Abstand zwischen Erkanntem und nicht Erkennbaren des eigenen Seins, ist der Arbeitsbereich der Intuition, auch der romantischen Weltanschauung, ein ganz eigener Bereich menschlicher Freiheit.
Es kann also – jedenfalls wenn man den Bezug zur Wirklichkeit der menschlichen Lebenswelten behalten möchte – nicht mehr nur heißen: Habe den Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen. In der neuen Aufklärung muss es heißen: Habe den Mut, dich deiner eigenen Intuition zu bedienen.[7] Die reine Rationalität führt – im Vakuum des Nur-Gedachten – zu weit, über unsere Möglichkeiten hinaus. Ich glaube mittlerweile nicht mehr, dass es so etwas, auch eine interessenlose Vernunft, überhaupt geben kann. Unser Verstand muss uns als irrationales, intuitives Wesen begreifen – um die Intuition immer wieder scharf zu stellen.[8] Er muss sich als etwas Begrenztes und Endliches, etwas bodenständig Gebogenes erkennen. Während die Ratio dazu tendiert, über sich selbst hinauszugehen, müssen wir unsere Grenzen, unsere Bodenständigkeit, unser Selbst lieben lernen und sie pflegen als Familienmenschen, als Kulturbürger im nationalen Kontext, als religiöse Menschen.
[1] Spalding, Johann Joachim, Die Bestimmung des Menschen, Leipzig 1774, S. 29
[2] Irrlitz, Gerd, Kant Handbuch, Verlag J.B. Metzler, Stuttgart, Weimar, 2010, S. 22
[3] Ferguson, Adam, Abhandlung über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft. Jena, 1923, S. 258
[4] Friedrich Nietzsche hatte die Aufklärung als Epoche bezeichnet, die die bloße Vernunft zur Herrschaft zu bringen suche, keine Mythen mehr kenne und sich insgesamt als misslungenes Unterfangen lesen lasse, das Dasein „als begreiflich und damit als gerechtfertigt erscheinen zu machen.“ Der dazu gehörige Menschentyp sei der des „theoretischen“ Menschen, der an eine Correctur der Welt durch das Wissen, an ein durch Wissenschaft geleitetes Leben “ glaube. Nietzsche, Friedrich, Sämtliche Werke. Kritische Gesamtausgabe in 15 Bd., Hrsg. V.G. Colli u. Montinari, München, 1986, S. 99, 115
[5] In der „Dialektik der Aufklärung“ aus dem Jahr 1944 unterzogen Max Horkheimer und Theodor W. Adorno den Vernunftbegriff der Aufklärung einer radikalen Kritik. Sie formulierten die These, dass sich in der Menschheitsgeschichte eine instrumentelle Vernunft durchgesetzt habe, die sich als Herrschaft über die äußere und innere Natur und schließlich in der institutionalisierten Herrschaft von Menschen über Menschen verfestigte. Ausgehend von diesem „Herrschaftscharakter“ der Vernunft beobachteten Horkheimer und Adorno einen Aufschwung der Mythologie, die „Rückkehr der aufgeklärten Zivilisation zur Barbarei in der Wirklichkeit“. In: Horkheimer, Max, Gesammelte Schriften, Bd. 5, Fischer, Frankfurt a.M., 1987, S. 6
[6] Die Grundstrukturen unseres Denkens und Erkennens sind zugleich die Grundstrukturen der für uns erkennbaren Realität.
[7] Friedrich Nietzsche spricht vom „intuitiven Menschen“, der anders als der „vernünftige Mensch … nur das zum Schein und zur Schönheit verstellte Leben als real nimmt.“ Nietzsche, Friedrich, Sämtliche Werke. Kritische Gesamtausgabe in 15 Bd., Hrsg. V.G. Colli u. Montinari, München, 1986, S. 889
[8] Sohns, Achim, Philosophische Widerworte, S. 65 – 69