Hat Essen, Kulinarik, überhaupt etwas mit Philosophie zu tun? – Philosophieren und Kochen, um zu Essen, sind uralte menschliche Tätigkeiten – die sich fremd zu sein scheinen.
Gesichert ist, dass manche Philosophen, Hegel zum Beispiel, gerne gegessen haben. Ludwig Wittgenstein und Jean Paul Sartre[1] wird hingegen nachgesagt, sie seien Kostverächter gewesen: Also Menschen, die kulinarischen Genüssen skeptisch gegenüber standen, was den Ruf der Philosophie als asketisch, „unkulinarisch“, zu stützen scheint.
Platon nahm die weiter einflussreiche Position ein, dass die kulinarische Praxis „nur eine Geschicklichkeit“ sei, und darüber hinaus «ganz vernunftlos», weil sie kein Wissen von dem habe, was sie anwendet und keine Gründe für die Art ihres Herstellungsprozesses anzugeben wisse. Platon wird in der kulinarischen Philosophie auch als Gründungsvater des gedankenlosen Fastfood gesehen.
Demgegenüber deuten Redewendungen wie: ‚ein Buch verschlingen‘ oder ‚nach Erkenntnis lechzen‘ eher auf eine besondere Nähe von Philosophie und Kulinarik. Ebenso zeigen Begriffe wie „Erkenntnishunger“ und „Wissensdurst“, dass beide zusammen hängen können.
Als praktischer Philosoph vertrete ich die Auffassung, dass philosophisches Denken nicht im Elfenbeinturm schlafwandeln, sondern sich wie das Kochen mit realen Gegenständen beschäftigen sollte. Praktische Philosophie.
Fällt einem das Denken leichter, wenn man Kartoffeln schält? Ich meine ja – denn ohne den Leib ist alles Denken nichts.
Von Wittgenstein stammt der Aphorismus „Rosinen seien zwar das Beste am Kuchen, aber alleine ergeben sie noch keinen Kuchen“. Kochen (oder Backen) im Sinne von Wittgenstein wäre dann also wie eines seiner „Sprachspiele“, in dem die einzelnen Bestandteile nur im Zusammenhang, im „Fluss des [kulinarischen] Lebens“ Sinn ergeben. Es geht also um das schmackhafte Gesamtgericht, das die Menschen nach Möglichkeit in der Gemeinschaft verzehren.
Kochen, die Kulinarik, ist also philosophisch.
Was ist nun das Philosophische am Kulinarischen genauer? Ich möchte mich auf zwei Aspekte beschränken:
- Zum Einen ist Essen selber zu einer ethischen Herausforderung geworden.
- Zum Zweiten ist bewusstes Essen zugleich Genuss-Essen – ein Akt des Hedonismus.
- Zunächst – Essen und Ethik
Nun ja. Wir alle stellen uns mittlerweile Fragen: Zur Herkunft unserer Lebensmittel, nach der Art ihrer Erzeugung, nach den Transportwegen, der CO2-Bilanz – das sind ethische Fragen, Fragen nach der Moral des richtigen Essens. Es geht heute um die Rechte der Nutztiere, die wir verzehren. Es geht um die Frage, ob die industrielle Landwirtschaft für die Ernährung von Millionen und Milliarden ein Segen oder vernichtender Raubbau an der Natur ist. Die Bevölkerungsexplosion in vielen Regionen der Erde führt an „kulinarische Kipppunkte“. Landwirtschaftliche Nutzflächen werden zu Spekulationsobjekten.
Essen und Ethik gehören also selbstverständlich zusammen.
Ich möchte den Kategorischen Imperativ (Moral als individuelles Gesetz) von Immanuel Kant[2] kulinarisch wie folgt fassen:
„Ernähre dich so, dass die Maximen deiner Ernährung auch dem Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen zuträglich sind und dienen können.“
Das gilt, auch wenn es erst mal nicht besonders lecker klingt. Die meisten von uns haben diese Maxime verinnerlicht. Viele von uns können sich das sogar leisten.
2. Was ist nun aber mit dem Genuss-Essen?
Epikur, griechischer Philosoph an der Wende vom 4. zum 3. Jahrhundert v. Christus, der seine Schule in Athen in einem Garten führte, formulierte den berühmten Satz: „Anfang und Ende alles Guten ist die Lust des Bauches: Und auch alles Weise und Erlesene bezieht sich auf ihn.“ Womit er den Begriff des „Epikureers“ prägte, als Bezeichnung für einen Genießer, der den sinnlichen Freuden auch des guten Essens zugetan ist.
Die Arbeiten in der Küche sind – jenseits von Fast-Food oder vorgefertigter Convenience-Produkte – erkenntnissteigernde Prozesse – man muss sich Zeit nehmen …. Die Küchenarbeiten sind ein Ins-Werk-Setzen von individuellen kulinarischen „Wahrheiten“.Die Prozesse müssen in der je eigenen Art gelingen und erfordern oft komplexe Techniken: Schmoren, Braten, Abbrühen, Simmern[3], Schäumen und dergleichen.
Tranchieren, Zerlegen, Bridieren[4], Gelieren, Sphärisieren usw. verlangen annähernd skulpturale Fähigkeiten der Formgebung. Kochen hat auch mit Können zu tun.
Mit der freien Komposition von Speisen, dem Überwinden von Regeln und Rezept-Vorgaben, stoßen wir in Metaebenen der Nahrungsaufnahme vor- in die Sphären einer eigenständigen Ästhetik (Ästhetik ist das, was unsere Sinne – Geschmack, Sehen – bewegt).
Die Kochkunst fußt auf der freien thematischen Gestaltung des Genießens: Genießen – denn, lecker schmecken muss es ja auch …
Hier lassen wir jahreszeitliche, klimatisch-regionale, womöglich soziohistorische, weltanschauliche (religiöse) Faktoren einfließen. Individuelles Können verdichtet sich zu Denkschulen, zu Philosophien der Kulinarik.[5] [6]
Aristoteles erwähnt eine Anekdote, der zufolge der Philosoph Heraklit zu Gästen, die ihn unerwartet am Küchenofen antrafen, die in ihrem Tiefsinn dunklen Worte gesagt haben soll: «Kommt nur herein, auch hier sind Götter!»
Die kochkünstlerische Aktivität ist das tägliche Ausdrucksgeschehen einer existentiellen („essistenziellen“) Lebenskunst, in der sich allmählich (buchstäblich über den Weg aller gekochten Mahle) eine kulinarische Genuss-Individualität ausbildet. Ein individuelles Sinnesabstraktum, das sich tagtäglich bewahrheitet und von anderen geteilt wird.
Wenn zu guter letzt noch die „Ethisierung des Ästhetischen“ hinzutritt, bei dem sich kulinarische Ästhetik mit Ethik verbindet, verbinden sich guter Geschmack, das Genießen mit Verantwortungsgefühl. Konkret heißt das: Das leckere Essen mit regionalen, saisonalen, naturverträglich erzeugten Produkten zu bereiten.
Der Homo Sapiens wird in der Philosophie der Kulinarik zu einem Wesen mit Geschmack und Vernunft, zum Slow Food Hedonisten.
[1] Sartre musste täglich im Restaurant essen, weil Simone de Beauvoir nicht kochen konnte.
[2] „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Kant, Kritik der praktischen Vernunft
[3] Simmern (von englisch to simmer, „sieden“) bezeichnet den Garvorgang in heißem Wasser knapp unter dem Siedepunkt. Für diese Garmethode gibt es auch spezielle, doppelwandige Kochtöpfe, sogenannte Simmertöpfe, die beim Erhitzen, beispielsweise von Milch, das Überkochen und Anbrennen verhindern.
[4] Das Bridieren wird vor der Zubereitung durchgeführt. Bei Geflügel bindet man die Flügel und Keulen am Corpus fest, damit die Extremitäten bei der Zubereitung (Braten, Grillen) dieselbe Garzeit haben. Andere Formen wie Lammkrone oder Fischringe werden für Schaustücke besonders hergerichtet.
[5] BSP: „Neue Internationale des guten Geschmacks“ mit (2014) über 100.000 Mitgliedern auf 6 Kontinenten, in 150 Ländern: Slow Food: gutes Essen soll dem allgemeinen Wohl dienen: „Slow food genussführer“: Gasthäuser und Restaurants, die die Slow-Food-Prinzipien „gut, sauber, fair“ täglich umsetzen, die auf Geschmacksverstärker und „Convenience“ verzichten und ihre Gäste mit einladendem Ambiente und gastfreundlichem Service begrüßen. Transparenz der Bezugsquellen steht in den Beschreibungen der Lokale im Vordergrund. Regionale Kompetenz der Wirte bei der Verwendung von lokalen Grundprodukten oder bei der Pflege regionaler Rezepturen sind uns vorrangige Anliegen. Als Printausgabe ist der Genussführer ab 2. September 2024 in der 6. Auflage erhältlich. Daneben gibt es den Slow Food Genussführer Deutschland auch als App für Android und iPhone.
[6] «Manifest der Neuen Nordischen Küche», basiert auf den einfachen Prinzipien, dass möglichst nur regionale und saisonale Produkte verwendet werden und der Umwelt nicht geschadet wird:
„Als Experimentierraum der kochkünstlerischen Zukunftsforschung ist die Küche zum Ort des kulturellen Wandels und einer Revolution der kulinarischen Kultur geworden. Kochen ist ein mächtiges, transformatives Werkzeug, welches durch die gemeinsame Sache von Ko-Produzenten – zwischen Berufsköchen, Produzenten und Konsumenten –die Art, wie sich die Welt ernährt, verändern kann. Wir träumen von einer Zukunft, in der der Chef sozial engagiert ist, der Verantwortung seines oder ihres Anteils an einer gerechten und nachhaltigen Gesellschaft bewusst. … Durch unsere Küche, unsere Ethik, unsere Ästhetik können wir zur Kultur und zur Identität eines Volkes, einer Region, eines Landes beitragen. Wir können auch als eine wichtige Brücke zu anderen Kulturen dienen.»