Zeitenwende?

Zeitenwende?Zeitenwende?

„Das Absurde“, hieß es in Albert Camus‘ philosophischer Abhandlung „Der Mythos von Sisyphos“, ist „der Zusammenprall des menschlichen Rufes mit dem unbegreiflichen Schweigen der Welt.“ Kann die Philosophie heute ein Versuch sein, das Absurde zum Sprechen zu bringen? Haben wir das neue Heute schon verstanden?

Seit gut 2 Jahren stehen wir – abrupt – inmitten für unsere Generationen unbekannter Erschütterungen: die globale Corona-Pandemie – die „unsichtbare Lebensform, untotes, stumpfsinnig repetitives Leben“ -, bedrohte den Einzelnen und seine Lebensgewohnheiten. Der Flow des Gewohnten, Alltäglichen scheint seit dem zu reißen. Klimaveränderungen mit Temperaturen an die 40 Grad erschüttern das Erleben des Sommers als Auszeit und „Leisure Time“: Waldbrände, Überschwemmungen und ausgetrocknete Flüsse. Eine Jahreszeit wird bedrohlich.

Wir erleben erstmals nach dem Ende des 2 Weltkrieges einen Krieg – keine zwei Flugstunden von Deutschland entfernt. Deutschland rüstet sich, will wieder verteidigungsfähig werden. Wir erleben neue wirtschaftlicher Verwerfungen in einer nicht gekannten Energiekrise und Inflation. Was geschieht mit unserem Leben? Kann ein Leben mit Rückschritten, mit weniger Wohlstand Sinn machen?

Endet das viele Jahrzehnte währende, friedvolle, wohlständische, europäische Miteinander ohne Grenzen? Stehen wir vor oder schon in kollektiven und damit auch individuellen existentiellen Brüchen – wie die Menschen dies in und nach den vernichtenden Kriegen des vergangenen Jahrhunderts gespürt, gelebt und sich letztlich gedanklich und materiell erschlossen haben?

Sind wir in einer „Zeitenwende“, wie Kanzler Scholz sie im Februar 2022 in seiner Rede vor dem deutschen Bundestag ausgerufen hat?

Im Interview mit der Tageszeitung „Die Welt“ sagte der Psychologe Stephan Grünewald (Leiter des Rheingold-Instituts) am 01.06.2022: „Die Menschen beginnen zu ahnen, was „Zeitenwende“ bedeutet, die spüren sehr wohl, dass es nie mehr werden wird, wie früher. Wir haben eine zu große Massierung an Krisen, die sich alle, wenn auch ganz unterschiedlich, auf die Seele auswirken, Corona, Krieg, Flüchtlingsbewegungen, Klima-Krise, Inflation.“

Aus der Sicht der Menschen in den westlichen Wohlstandsgesellschaften macht all dies keinen Sinn. All die abrupten Herausforderungen schienen zuvor bereits überwunden, unvernünftig, grundlos, geradezu absurd, bedrohlich und werden so lange als möglich verdrängt. Die diesjährigen Staus bei 40 Grad auf den Autobahnen in der Urlaubszeit zeigen ein hohes Verdrängungspotential. „Bares für Rares“ bei einer Inflationsrate von 10 %? Oder: befinden wir uns schon im Zustand der Resilienz?

Der französische Existentialismus

Am 3. September 1939 erklären Frankreich und Großbritannien Deutschland den Krieg. Die Welt hatte endgültig Kurs auf einen noch vernichtenderen zweiten Weltkrieg genommen. Der französische Philosoph Jean Paul Sartre, zu diesem Zeitpunkt 34 Jahre alt, befand sich als Soldat im Auge des Sturms. Der ihn umgebende Krieg erfüllte ihn mit einer „finsteren Energie und einem tiefen Gefühl, dass sich gerade Weltgeschichte vor ihm entfaltete und sein persönliches Schicksal damit verbunden war, ein persönliches Schicksal, für das er verantwortlich war.“ [Gary Cox, 2018, S. 78ff.]

Sartre entwickelt seinen Existentialismus aus dem Verlust der ihn umgebenden sinntragenden Ordnung (Religion, Nation). Folgerichtig beschreibt er das menschliche Bewusstsein in seiner Beziehung zum umgebenden Sein als ein Mangelwesen. Der äußere Mangel ist zugleich ein innerer. Das Bewusstsein „leidet“ an seinem Mangel an Sein. Zugleich ist der Mangel Voraussetzung und Bedingung der menschlichen Freiheit. Sartre:

„Weil die menschliche Realität nicht genug ist, ist sie frei; weil sie fortwährend sich selbst entrissen wird und weil das, was sie gewesen ist, durch ein Nichts von dem getrennt ist, was sie ist und sein wird.“[1]

Das Bewusstsein muss den Mangel, seine Entfremdung, überwinden.  Es muss die Beziehung zum Sein jeden Tag nach seinen Vorstellungen neu erschaffen, sich entscheiden. Selbst wenn der Mensch sich entscheidet, nichts zu machen oder gar für den Freitod, so bleibt er verantwortlich und muss die Konsequenzen tragen.[2]

Die Menschen sind zur Freiheit verurteilt.

Sie befinden sich, sagt Sarte, auf einer permanenten Reise von ihrem gegenwärtigen Nichtsein zu einer zukünftigen Übereinstimmung mit sich selbst. Eine Reise, die niemals endet.[3]

„Er [der Mensch] ist frei, weil er immer wählen kann, ob er sein Los in Resignation hinnimmt oder sich dagegen auflehnt.“[4]

Ein Auftrag an uns Heutige?

Sartre erschafft – aus dem Scheitern der französischen, der europäischen Gesellschaften durch die Weltkriege – eine Philosophie, die den Einzelnen in die Pflicht nimmt. Er soll aus den ihm gegebenen Möglichkeiten, eine ihm gemäße überlebensfähige Ordnung schaffen.

Die Vergangenheit kann man nicht verändern. Sie ist sogar immer die Bedingung für das eigene Entwerfen der Zukunft. Ob die Vergangenheit aber Ballast ist oder Quelle der Stärkung, der Anregung für meinen Entwurf, das entscheidet jeder selbst. Die Freiheit vermag auch einer miserablen vergangenen Gegenwart Sinn zu geben: Hoffnung für die französische Nachkriegsgesellschaft. – Und für uns?


[1] Sein und Zeit (SuN), S. 561

[2] Sartre, Baudelaire, 1978, S. 15: Nach Sartre ist es unsinnig zu behaupten, jemand habe ein Leben geführt, das er nicht verdiente – man hat immer das Leben, das man verdient.

[3] Auf diesem Weg in  die Zukunft – ständig von sich selbst losgerissen, von seiner Vergangenheit und von seiner Zukunft durch etwas (Noch-)Nichthaftes getrennt, ist er nicht mehr, was er war, und noch nicht, was er sein wird.

[4] Sartre, Der Existentialismus ist ein Humanismus, S. 119