Fußball hat weltweit den Stellenwert einer Ersatzreligion – wahrscheinlich die einzig verbliebene mit Weltgeltung überhaupt. Im Fußball wird eine Gemeinsamkeit der Gefühle, der Freude, der Euphorie, des Zorns, zu einer nicht digitalen, analog erlebten Tatsache. Zelebriert wird das Ganze in riesigen Erwartungsräumen, den Fußballstadien. Fußball ist unser gemeinsamer Nenner, eine archaische, universelle und laute Sprache einer klassenlose Idylle – sowohl innerhalb der Nationen als auch zwischen ihnen. In seinen besten Momenten führt der Fußball die Menschen in einer emotionalen Gemeinschaft zusammen – ein emotionaler Schwarm mit emotionaler Intelligenz.
Im Jahr 2020 verstarb ein dem Grunde nach Unsterblicher, Diego Armando Maradona. In „Zeit Online“ beschrieb Martin Machowecz am 02.12.2020 einen emotionalen Riesen :
„Man muss ihn einfach gesehen haben, wenn er spielte, und sei es nur in Videos. 1988, als ich geboren wurde, war seine Karriere gerade auf ihrem Zenit. Das Kleinkind, das ich damals war, hatte keinen Sinn für solche Schönheit, aber ich wuchs doch auf im Wissen: Maradona ist ein Held. Und dann! Unendlich oft habe ich später die Videos seiner besten Szenen gesehen. In den Nachrufen jetzt tauchten die Bilder noch mal auf, man kam ja gar nicht daran vorbei: Wie die Fans seiner huldigten, in Argentinien und in Neapel, wie sie ihn umringten und bedrängten, als sei er Volkseigentum. Wie sie Liebkosungen forderten, Umarmungen. Ihn einmal nur berühren, küssen! Man sah auf den Bildern, wie Tränen flossen, wenn er Tore geschossen hatte. Und wie Tränen flossen, wenn ihm mal keines gelungen war. Kein Schritt ohne Emotionen. Ein Leben voller Glück und Trauer. Diego legte die Seelen frei. Weil der Fußball immer die Seelen freilegt, wie es auch Diegos Nachfahren im Geiste, oder besser: im Fuße tun.“
Maradona zeigt, Fußball ohne Gefühle ist undenkbar. Das gilt selbst für sich rational gebende, kühl kalkulierte Spieltaktiken, wie den italienischen „Catenaccio“, ein Verteidigungsbollwerk mit Konter-attitüden, das heftigste wütende Gegenreaktionen auslösen kann. Der Fußball ist eine universelle emotionale Sprache in Theorie und Praxis.
Das Stadion, das Public Viewing, die TV-Gemeinden sind Gemeinschaftsorte, die letzten ihrer Art, an denen die Menschen wissen, woher sie kommen – um diese gemeinsame Herkunft zu unterstützen, sie im Hier und Jetzt zu erleben und zu feiern. Der Fußball kann Wunder vollbringen : wildfremde Menschen, die eigentlich keinen Anlass hätten, einander auch nur in die Augen zu blicken, versammeln sich an einem Ort und hinter einer Sache : dem sportlichen Sieg einer Region oder einer Nation. Der Fußball ist das Bodenständige schlechthin. Eine Bodenständigkeit, die im eigenen Sein gründet. Nicht „gelassen“, aber echt, authentisch im Augenblick des Hier und Jetzt. Das „Bodenständige“ ist die Wachsamkeit für den Moment im Bewusstsein seiner Herkunft und Zukunft.[1] Fußball ist Geschichtlichkeit: das Wunder von Bern 1954, das Wembley-Tor 1966 und die historische Niederlage der deutschen Regenbogenelf im Rahmen der Europameisterschaft 2021 (2020) sind Gegenstand eines fortbestehenden Narrativ, an dem sich ganze Nationen ausrichten.
Dennoch wird die emotionale verbindende Fußballgemeinschaft nicht von allen Bevölkerungsgruppen geteilt. insbesondere stehen Teile der Eliten dem ambivalent bis negierend gegenüber. Die modernen Fußballtempel gelten den liberalen westlichen Eliten vielfach als suspekt. Sie verhalten sich stoisch. Gefühlsausbrüche, wie die im Fußball auf dem Feld oder auf den Tribünen oder vor den Fernsehern, die notwendig nach emotionaler Gemeinsamkeit, der Zugehörigkeit zu einer Gruppe, regional oder national, streben, werden wie bei den Stoikern mit großem Misstrauen beäugt, bzw. offen abgelehnt. Der politische Zugriff, der versucht den Thymos – die emotionale Energie des Sports zu umdämmen – ist immens.
Liebe, Haß, Freude und Furcht galten schon den antiken Stoikern als Einschränkungen der Rationalität, der Begabung des Menschen zum vernünftigen Handeln. Gefühle müssen mit Hilfe des Denkvermögens beherrscht werden. Und wenn sie lästig werden, muss man sie soweit möglich ganz eliminieren. Für die Stoiker ist der Mensch im gefühlsfreien vernünftigen Handeln seiner Natur am nächsten. Der Mensch ist vernünftig. Die natürlichen Dinge seien zu nehmen und zu bewahren, aber nicht bedingungslos. Gefühlen wie Lust, Schmerz, der Furcht und des Verlangens seien bloße Meinungen, die man auszuräumen habe, denen zu folgen nicht erstrebenswert sei. Cicero lässt an den Gefühlen kein gutes Haar :
„Auch könnte ich die Gemütsbewegungen, welche das Leben der Thoren elend und bitter machen … Krankheiten nennen …; sie mögen also Leidenschaften heißen, wo schon der Name ihre Fehlerhaftigkeit anzudeuten scheint, …. Diese Leidenschaften werden nicht durch die Kraft der Natur erweckt, sondern sind lediglich leichtsinnige Meinungen und Urteile; der Weise wird deshalb immer frei von ihnen sein. … Ist es besser, gemäßigte Affekte zu haben oder gar keine ? Wir Stoiker treiben sie aus, … Ich sehe nicht, inwiefern irgendein mittleres Maß einer Krankheit heilsam oder nützlich sein kann.“[2]
Die Stoa ist heute wieder in Mode gekommen. Stoische Selbsthilfe- und Gelassenheitsratgeber sind angesagt. Im Silicon-Valley werden Stoa-Kurse angeboten und in den Google Headquarters stehen den Mitarbeitern Meditationsräume zur Verfügung. Der Stoizismus lehrt, innere Freiheit nahezu absolut zu setzen, um so auch bei widrigsten äußeren Umständen autonome Souveränität zu wahren – ein Versprechen auf individuelle Autonomie. Die Vernunft als die eigentliche Natur des Menschen soll die Gefühle ausschalten oder zumindest nachhaltig kontrollieren. Die reine Tugend anzustreben und damit zu innerer Selbstbestimmung zu gelangen, sei hinreichend für ein glückliches Leben.
Das ist liberalistischer Zeitgeist pur. Ohne Traditionen, ohne Bodenständigkeit soll der Mensch mittels der je eigenen Vernunft frei und selbstbestimmt handeln können. Auch die stoische Maxime, den Geist zu schulen, um ihn resilient zu machen, grenzt an die Selbstoptimierungsprogramme der modernen Individualisten.
Fußball und die (moderne) Stoa bilden absolute Gegensätze : Hier der emotionale aufgewühlte Schwarm, dort der enthobene Einzelne in seiner Tugendblase. Wenn das eine, der Sport, die Massen mit emotionaler Wucht bewegt und das andere einen Teil der westlichen Eliten von den Massen entfernt – für den Sport nur mehr Selfie beleuchtetes Selbstoptimierungsprogramm darstellt -, stellt sich die Frage, ob oder wann sich die Massen neue Eliten aussuchen.
Gefühl und Vernunft, Erkennen und Empfinden gibt es nur im Doppelpack.
Der deutsche Philosoph Johann Gottfried Herder sah die verschiedenen Möglichkeiten des Menschen nicht als Gegensätze, sondern in organischer Verbundenheit. Er verwandte nicht nur die Begriffe Empfindung und Gefühl als Synonyme, er sprach auch von geistiger Empfindung und vom Erkenntnis-vermögen der Seele.
Gefühl und Vernunft, Empfinden und Erkennen waren für ihn nicht voneinander zu trennen, am Ende seien sie „gar einerlei. Kein Erkennen ist ohne Empfindung, d.i. ohne Gefühl des Guten und Bösen, … . Die Seele muss fühlen, dass, indem sie erkennet, sie Wahrheit sehe, mithin sich genieße, … Das Erkennen der Seele lässt sich also nicht ohne Gefühl des Wohl- und Übelseins, ohne die innigste geistige Empfindung der Wahrheit und Güte denken.“ Gleichzeitig lässt sich „keine Empfindung ganz ohne Erkennung“ denken. Man müsse sich „und seinen Zustand fühlen, … d.i. dunkel erkennen.“[3]
Fühlen und denken gibt es also laut Herder nur zusammen, im Doppelpack, in unauflöslicher Verbindung. Jede Gesellschaft braucht Orte der emotionalen Verständigung, des gemeinsamen Innehaltens, und was bliebe denn, wenn der Fußball verschwände?
[1] Martin Heidegger, Gelassenheit, 2014, S. 13 ff.
[2] Cicero, Fünf Bücher über das höchste Gut und Übel, § 33 – 35
[3] Herder, (1774) Übers Erkennen und Empfinden in der menschlichen Seele. www.zeno.org/Literatur/M/Herder,+Johann+Gottfried/Theoretische+Schriften/%C3%9Cbers+Erkennen+und+Empfinden+in+der+menschlichen+Seele/1.+Entwickelung+der+urspr%C3%BCnglichen+Bestimmung