Die Seele auf unserer Haut – Gesichter

Old man talking.
„Vielmehr ist jedes Menschengesicht eine Hieroglyphe, die sich allerdings entziffern lässt, ja deren Alphabet wir fertig in uns tragen.“ Arthur Schoppenhauer, Paralipomena, Kap. 29 – Zur Physiognomik

Die Gesichtszüge des Menschen spiegeln die sich im Laufe des Lebens wiederholenden Bewegungen auf seinem Gesicht, seiner „fazialen Oberfläche“, wieder. Gemütsregungen wie etwa Freude oder Angst hinterlassen Spuren. Das habituelle Gemüt prägt im Lauf der Zeit diese Gesichtszüge. Wer viel lacht, erntet am Ende Lachfältchen. Die häufige Wiederholung eines Mienenspiels, die sichtbaren Bewegungen der Gesichtsoberfläche, werden zu einem bleibenden Ausdruck eines menschlichen Lebens – die Seele auf unserer Haut.

Dieser Ausdruck der Gesichtsoberfläche wird für das menschliche Gegenüber erst verständlich, wenn er erkannt und zugeordnet werden kann. Mimik ist also a priori inter-fazial, kommunikativ. Gesichtsausdrücke, auch die im Lauf des Lebens erworbenen Gesichtszüge, sind Teil und Ergebnis gewachsener menschlicher Kommunikation, sonst gäbe es sie nicht. Ohne das Verstehen durch den Anderen wäre der Gesichtsausdruck ein Vakuum oder ein neutrales Dazwischen.

Das Ringen um die insoweit optimale Kommunikation hat der plastischen Chirurgie erhebliche Umsätze beschert.[1] In den westlichen Wohlstandsgesellschaften wird, befeuert durch die Strategien der Medien- und Werbeindustrie, das Selektionsprinzip des Survival of the Fittest (im Sinne der Darwin’schen Evolutionstheorie das Überleben der am besten angepassten Individuen) umgedeutet in die Auslese der jeweils Attraktivsten. Hinter der vermeintlichen Individualisierung lauert die Gefahr der physiognomischen Verflachung – einer kollektiven fazialen Angleichung. Unter der Idee des Attraktivitätszwanges leiden insbesondere Teenager, da es normaler Gegenstand ihrer situativen Selbstwahrnehmung ist, mehr sein zu wollen, als sie noch sein können und schöner sein zu wollen, als sie es ohnehin schon sind – eine alterspezifische Geringschätzung bereits gelebten Lebens.

Gesichtserscheinung und -wahrnehmung ist auch kulturelle Geschichtlichkeit, weil sich das Empfinden für Schönheit von Gesichtern im Verlauf der Zeit ändert. Auch kann ein spezifischer Gesichtsausdruck in unterschiedlichen Kulturen unterschiedlich aufgefasst werden. Gesichter haben historische Konnotationen von Schönheit, die wie bei der Mona Lisa, auch von bleibendem Gehalt sein können.

„Die Wohlgestalt des Menschen ist also kein Abstraktum aus den Wolken, keine Komposition gelehrter Regeln oder willkürlicher Einverständnisse : sie kann von jedem erfasst und gefühlt werden, der, was Form des Lebens, Ausdruck der Kraft im Gefäße der Menschheit ist, in sich oder im anderen fühlet. Nur die Bedeutung innerer Vollkommenheit ist Schönheit … Und dies alles sind keine Kunstregeln, keine studierte Übereinkommnisse : es ist die natürliche Sprache der Seele durch unseren Körper, die Grundbuchstaben und das Alphabet alle dessen, was Stellung, Handlung, Charakter ist, und wodurch diese nur möglich werden.“[2]

Der „erste Blick“ sucht im Gesicht, im Antlitz des Gegenüber, aus seinen Gesichtszügen sein moralisches und intellektuelles Wesen herauszulesen, im Voraus zu erkennen. Der erste Eindruck ist oft bleibend. Das erlernt man und darauf bereitet man sich bspw. bei Vorstellungsgesprächen und Dates mit möglichen Partnern vor. Viele gehen stillschweigend von dem Grundsatz aus, dass jeder ist, wie er aussieht.[3] Das erste Sehen ist in der Tat noch unverstellt und noch nicht durch Sprechen oder gewohntes Hinsehen subjektiviert. Das Gesicht und das Aussehen eines erwachsenen Menschen wird in dieser Betrachtung zu einem Monogramm des Denkens und Trachtens seiner selbst.[5]

„Die Entzifferung des Gesichts [ist] eine große und schwere Kunst [deren] Prinzipien […] nie in Abstracto zu erlernen sind.“[4]

Mit der Digitalisierung, den elektronischen „sozialen“ Medien, tritt durch Smartphones etc. eine neue Form der Intersubjektivität, der Inter-Fazialität auf den Plan. Es entsteht ein hybrider Raum, in dem auch die Maschinen ihre Eigenschaften und Einsatzerwartungen auf den Menschen projizieren können. Möglichkeiten und Routinen der Datenverarbeitung und Big Data Analyse ersetzen in Teilen, was zuvor als inter-faziale Kommunikation und intersubjektives Verstehen firmierte. Das digitale Interface verändert sich nicht, zeigt keine Alterungsspuren – eine körperlose Oberfläche ohne Gebrauchsspuren.

Interface ? Kunstmuseum Wolfsburg 2019

[1] „Ästhetische Chirurgie : der Zufall eines Gesichts, seine Schönheit, seine Hässlichkeit, seine es bestimmenden Züge, seine negativen Züge, all das muss repariert werden, man muss etwas Schöneres als das Schöne daraus machen, ein ideales Gesicht, ein Chirurgie-Gesicht.“ Baudrillard, Transparenz des Bösen, 1992, S. 53 – 54

[2] Johann Gottfried Herder, Plastik, in Herders Werke, Bd. 3, Bibliographisches Institut, S. 131 – 134.

[3] Johann Caspar Lavater, Physiognomische Fragmente (1775 – 1778), 1948, S. 15 : „Physiognomik ist die Fertigkeit, durch das Äußerliche des Menschen sein Inneres zu erkennen. Dies Äußerliche und Innere stehen offenbar in einem genauen unmittelbaren Zusammenhange.“

[4] Arthur Schoppenhauer, Paralipomena, Kap. 29 – Zur Physiognomik. Sämtliche Werke, wbg, 2004, S. 745

[5] Ein Monogramm besteht in der Regel aus kunstvoll verschlungenen Initialen eines Vor- und Nachnamens. Es erzählt immer eine Geschichte, es verrät viel über eine Person oder was wir über althergebrachte Traditionen denken.