Raum und Zeit bei Martin Heidegger im Sperrfeuer der digitalen Arbeits- und Erlebniswelten
Raum und Zeit gelten als die Grundvoraussetzungen der menschlichen Existenz. Kann man diese Zwei nun auf das menschliche Sein hin genauer bestimmen? Handelt es sich um zwei vom Menschen unabhängige physikalische Größen oder „reine Anschauungsformen“ wie Immanuel Kant formuliert hat, die je getrennt von ihm zu betrachten wären ? Oder – sind Raum und Zeit „menschengemacht“ ?
Die menschliche Zeiterfahrung setzt sich zusammen aus der erfahrenen und bewahrten Vergangenheit, einer erwarteten Zukunft und einer Gegenwart, die beide Seiten unmittelbar zusammenbringt. Ohne verstandene Erfahrungen aus der Vergangenheit verbleibt man am Standort Null. Eine bewusste Gegenwart ist dann ebenso wie eine gestaltete Zukunft nicht vorstellbar. Die vergangene, gewesene Welt muss vom Menschen erschlossen und verstan-den sein, erst dann kennt er seine Möglichkeiten. Erst dann kann gegenwärtiges Handeln folgen, indem das durchdachte Gewesene mit einer möglichen Zukunft verbunden wird.
Das Verstehen der Zusammenhänge in ihrer Innerzeitlichkeit stellt, so der Philosoph Martin Heidegger, ein Sich-Entwerfen jedes Menschen (seines Daseins) auf seine Möglichkeiten, auf sein Sein-Können hin, dar.[1]
Zeit ist demnach etwas, das der Mensch selbst hervorbringt – keine von ihm unabhängige physikalische Verrechnungseinheit. Ohne Mensch keine Zeit, da die Verschränkung von Ge-wesenheit, Gegenwart und Zukunft nur in ihm stattfindet. Nur er, der sich selbst und seine Umwelt betrachtende Mensch, hat ein Verhältnis zu seinem eigenen Sein in der Zeit.
Heidegger öffnet den Blick auf das durchlebte Heute, das Hier und Jetzt, für den bewussten Augenblick : „So ist denn das Heute kein für sich bestehender Zeitabschnitt, der überall hin abgeriegelt wäre. Das Heute hat seine Herkunft im Gewesenen und ist zugleich dem ausgesetzt, was auf es zukommt.“[2]
Die Räumlichkeit der menschlichen Existenz, das Raumerleben, stellt ihrerseits einen Aufenthalt an einem erfahrenen, bekannten Ort dar. Er ist unser Ort. Das, was Heidegger das „in der Welt sein“ nennt, bedeutet, dass das Dasein immer nur in vertraute und erfahrene Orte hinein stattfindet.
„In-Sein meint eine Seinsverfassung des Daseins … in stammt von [altdeutsch] ‚innan-‚, wohnen, habitare, sich aufhalten; ‚an‘ bedeutet: ich bin gewohnt, vertraut mit, ich pflege etwas; … Dieses Seiende bin ich je selbst. Sein als Infinitiv des ‚Ich bin‘ … verstanden, bedeutet, wohnen bei … vertraut sein mit …“[3]
Selbst unbekannte Räume im Weltall werden erst dann zu einer menschlichen „Räum-lichkeit“, wenn sie erkannt und erfahren wurden. Und zwar so, wie wir sie erkannt und erfahren haben. Die Menschen interessiert, ob es „dort“ Wasser gibt oder eine erdähnliche Atmosphäre, ob es sich tendenziell um einen „menschlichen Planeten“ handeln könnte. Die Planeten und Sterne, die wir nicht kennen, bedeuten uns nichts.
„Im Sichrichten auf … und Erfassen geht das Dasein nicht etwa erst aus seiner Innensphäre hinaus, in die es zunächst verkapselt ist, sondern es ist … immer schon ‚draussen‘ bei einem begegnenden Seienden der je schon entdeckten Welt. Und das bestimmende Sichaufhalten bei dem zu erkennenden Seienden ist nicht etwa ein Verlassen der inneren Sphäre, sondern auch in diesem ‚Draussen-Sein‘ beim Gegenstand ist das Dasein im rechtverstandenen Sinne ‚drinnen‘, d.h. es selbst ist es als In-der-Welt-Sein, das erkennt.“[4]
Die Raum-Zeitlichkeit des menschlichen Lebens ist etwas Vertrautes, im Menschen Durchlebtes, ja „Bodenständiges“, das aus diesem Grund Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hat. Raum und Zeit können nur inhaltsvoll aus dem Menschen heraus verstanden werden. Das „bodenständige“ Leben vollzieht sich eben im konkreten Heute, zwischen Erde und Himmel, zwischen Herkunft und Zukunft, zwischen Woher und Wohin. Ohne diese „Nähe“ verkümmert das Leben. Es gelingt oder glückt nicht.[5]
Verändert sich das menschliche Leben, seine Wahrnehmung der Raum-Zeitlichkeit durch die Digitalisierung unserer Arbeits- und Lebenswelten ?
Menschliches Denken ereignet sich auf der physiologischen Grundlage von annähernd 100 Milliarden Nervenzellen, von denen jede bis zu 10 000 elektromagnetische Verbindungen eingehen kann. Das Verständnis dieser immensen Nervennetze mit ihren schier unendlichen Formen und Häufigkeiten von „Verschaltungen“ stellt eine rechnerisch nicht zu erfassende Größe dar. Zumal, da auch die Art der Verschaltungen überwiegend nicht nachvollzogen werden kann, also nicht codierbar ist. In diesem nicht-binären, nicht in Algorithmen zu fassenden Netzwerk „wohnt“ das menschliche Bewusstsein, ist sein In-der-Welt-Sein, seine konkrete Raum-Zeitlichkeit.
Das menschliche Wahrnehmen und Denken folgt nicht der binären Logik von Rechen-maschinen. Es ist mitunter logisch, aber nie algorithmisch.
Die digitalen Techniken folgen demgegenüber ausschließlich Rechenschritten, binären Algorithmen. Sie erobern Anwendungsgebiete, erlangen zunehmenden Einfluss. Sie ent-wickeln und erweitern individuelle, wissenschaftliche und wirtschaftliche Handlungsmög-lichkeiten und Handlungsfreiräume – beispielhaft bei der Informationsbeschaffung, ihrer Verarbeitung und Weitergabe zu allen erdenklichen Zwecken. Wir erleben in vielen Bereichen eine komplette informelle Augenblicklichkeit und Allgegenwart.
Gleichzeitig verändern und prägen sie den menschlichen Anwender unmittelbar und ausdauernd – die zwischenmenschliche Kommunikation und das alltägliche Arbeitsumfeld. Mensch und Maschine sind in einem durch big data und Mikrochips geprägten Alltag eng verbunden. Die Algorithmen verarbeiten, selektieren, und priorisieren Daten und beein-flussen damit menschliche Wirklichkeitskonstruktionen.
Die digitalen Kommunikationswege gaukeln umfassende und jederzeitige Verfügbarkeit von allem und jedem nur vorstellbaren Objekt vor. Tatsächlich lenken sie die Auswahl, da das mittlerweile Unübersichtliche des digitalisierten Angebots von Wenigen oder nur mehr von den Maschinen selbst übersehen und zur Auswahl aufbereitet wird. Die binäre Algorithmisierung von Wahrnehmung und Wirklichkeit verselbständigt sich. YouTube ist ein Kosmos aus Millionen von asynchronen Bewegtbildern, asynchronen Fernsehkanälen, die ein enzyklopädisches Ausmaß annehmen.
Der ehemalige „Operations Manager“ bei Facebook, Sandy Parakilas, ergänzt: „Es gibt nur eine Handvoll Menschen bei Unternehmen wie Facebook, Twitter oder anderen, die ver-stehen, wie die Systeme funktionieren, und selbst die können nicht immer bis ins letzte Detail nachvollziehen, was mit einem Inhalt passiert. Wir Menschen haben ein Stück weit die Kontrolle über diese Systeme verloren, denn sie kontrollieren die Informationen, die wir sehen. Sie kontrollieren uns.“
Algorithmen simulieren Raum-Zeitlichkeit.
Seit Jahrzehnten nun leben Menschen mehr oder weniger in binären Parallelwelten, in den social media spaces. Hier simulieren Algorithmen die Raum-Zeitlichkeit. Die analogen nichtbinären eigentlichen „Formate“ (ein Wald, eine konkrete Architektur …) blenden Digital Natives oft stärker als das elektronische Blitzlichtgewitter der überdimensionierten Bildschirme. Die nicht-binäre Realität wird als von Anforderungen und Anfechtungen be-stimmte Bedrohung wahrgenommen, als einschränkenden Sperrriegel vor den eigentlichen Handlungen.
Die wahrgenommene Wirklichkeit verliert ihre nicht-binäre Konsistenz oder konkrete Raum-Zeitlichkeit. Sie weicht auf.
Die fundamentale Neuartigkeit der digitalen Lebenswelten hat philosophische Konsequen-zen. Sie verhindert, dass die Erwartungen auf Zukünftiges an verstandene Vergangenheit gebunden werden können, weil die binäre Gegenwart und Zukunft anders aussieht, aussehen muss, als es die nicht-binäre, analoge Vergangenheit der (jungen) Menschen und deren eigentliche Gegenwart oder „Bodenständigkeit“ erwarten ließ. In der digitalen Erlebniswelt verschmelzen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in eine permanente und beliebige Gleichzeitigkeit und Verfügbarkeit. Gewesenes, Gegenwart und Zukunft liegen in der digitalen Welt gleichwertig übereinander, immer abrufbar. Die Ebenen sind wiederum nur nach virtuellen Kriterien eigener Provenienz – im binären System – überprüfbar, bzw. kritisierbar.
Auch sind die digitalen Erlebnisräume nicht mehr „räumlich“, nicht „mit Händen zu greifen“, sondern zweidimensionale visuelle Simulationen. Die Bildschirme sind eine Fläche ohne Tiefe, bei der nur zählt, was auf ihnen zu sehen und zu lesen ist. Sie stehen für eine artifi-zielle Flächigkeit, bei der das „Dahinter“ oder „Darunter“ eliminiert ist. Der Erfahrungsraum verschwimmt und verschwindet.
Wir verlieren die Gegenwart, weil die Vergangenheit als erlebte Erfahrung unbrauchbar zu werden scheint oder aufgrund ihrer systemische Andersartigkeit disruptiv endet, sich nicht mehr zum Referenzwert eignet. Ohne erlebte Erde und Himmel im Wechsel der Jahreszeiten verliert sich die „Bodenständigkeit“.
Mit seiner Simulationstheorie formuliert der französische Medienphilosoph Jean Baudrillard die Abschaffung von Wirklichkeit und einer allgemeingültigen Sinnhaftigkeit durch die Omni-präsenz der elektronischen Medien. Die Wirklichkeit, so Baudrillard sei hyperreal geworden. Sie bestehe nur noch aus Zeichen. Die „echte“ Wirklichkeit wird zu Staub – zu Raum-Zeit-Staub.
„Dabei ist jedoch das eigentlich Unheimliche nicht, dass die Welt zu einer durch und durch technischen wird. Unheimlicher bleibt, dass der Mensch für diese Weltveränderung nicht vorbereitet ist, dass wir es noch nicht vermögen, besinnlich denkend in eine sachgemäße Auseinandersetzung mit dem zu gelangen, was in diesem Zeitalter eigentlich herauf-kommt.“[6]
Nicht fassbarer Raum-Zeit-Staub. Und danach?
Die Wirklichkeit verschwindet aber nicht (vollständig) unter dem Vordringen der digitalen Techniken. Digitale Technik, Hardware und Software, stößt im neuen Zeitalter immer wieder an die „harten Grenzen“ der fortbestehenden analogen Realität. Ihre Faktizität schafft als Realität unter Realitäten neue Fakten, aber sie schafft die analoge Wirklichkeit nicht ab. Die digitale Faktizität ist eben auch analoge Realität : ein Smartphone, über das wir wischen, mit konkreten technischen Ausstattungsmerkmalen.
Dennoch hat das weitreichende Vordringen digitaler Erlebniswelten im privaten und beruf-lichen Leben zunächst „fehlerhafte“ Wirklichkeitsrezeptionen zur Folge. Sie schafft zwangs-läufig Abstände zur „bodenständigen“ Raum-Zeitlichkeit des Menschen.
Die zu beantwortenden Fragen lauten : Auf welche analoge Wirklichkeit trifft die digitale Faktizität? Ist diese in der Lage, die digitalen Erlebniswelten zu verstehen, für sich zu vereinnahmen ? Gibt es noch einen „bodenständigen“ Rahmen – Heimat, Familie, Religion -, der integrationsfähig ist ? Oder trifft sie auf eine bereits ins absolute gesteigerte Beliebigkeit, ein sich in liberalistischer Auflösung befindliches Gemeinwesen ? Schaffen wir es, das digitale Erleben als verstandene Vergangenheit jedes Einzelnen für die Gestaltung einer notwendig analogen Zukunft zu erschließen ? Wie nennen wir dann das, was Wirklichkeit tatsächlich jeden Tag verändert ?
Die „Matrix“ bleibt fassbar, auch wenn es zu ihrer Bändigung und „bodenständigen“ Einhegung anderer, digitaler Bildung und immer neuer Gesetze bedarf. Die Matrix muss gestaltet werden. Sie muss ins analoge „Vertraute“ gebogen werden.
[1] Martin Heidegger, Sein und Zeit (SuZ), S. 336 : Dieses Wissen gilt als ein „Sich-halten in einer existentiellen Möglichkeit“.
[2] Martin Heidegger, 700 Jahre Messkirch; in: Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges 1910 – 1976 (GA 16), Frankfurt a. Main, 2000, S. 575
[3] SuZ, S. 54
[4] SuZ, S. 62
[5] „Es genügt, wenn wir beim Naheliegenden verweilen und uns auf das Nächstliegende besinnen: auf das, was uns, jeden Einzelnen hier und jetzt, angeht; hier: auf diesem Fleck Heimaterde, jetzt: in der gegenwärtigen Weltstunde.“ Gelassenheit, 2015, S. 13
[6] Martin Heidegger, Besinnung, GA 66, Frankfurt a.M., 1997, S. 20