In den westlichen Konsumgesellschaften bedeutet Genuss eine sehr individuelle Wahrnehmung, die mit positiven Sinnesempfindungen zur Erfüllung konsumptiver Erwartungen assoziiert ist. Im Vordergrund steht das entgegen genommene und oberflächliche Angenehme und Erfreuliche – produziert von Dritten, in der Erwartung materiellen Mehrwerts.
In den westlichen Gesellschaften führt die Produktion und Überproduktion nützlicher und unnützer Güter in Teilen sogar zu einer Umkehr : Genuss scheint für viele Menschen nun dort zu entstehen, wo sie sich dem Angenehmen und Erfreulichen des Konsums verweigern und auf Minimal- und Eigenversorgung zurückfahren. Genuss ist dann dort zu vermuten, wo elementare Güter, wie bspw. Lebensmittel auf den Dächern der Millionenmetropole Berlin, selbst produziert werden. Dem korrespondieren neuere Untersuchungen, die nahe legen, dass individuelles Glücksempfinden ab einem jährlichen Bruttoeinkommen von 70.000 Euro nicht mehr ansteigt, in Teilen sogar rückläufig ist. Mehr Konsum macht anscheinend keinen Sinn, kann sogar Genuss mindern. Ab diesem Punkt folgt eine Umkehr. Konsumabkehr als Ergebnis von Konsum.
Der Begriff Genuss (genießen) hatte ursprünglich eine andere und substantiellere Bedeutung. Im Sinne von „etwas nutzen“ oder „etwas benutzen“ sprach man von Teilhabe und Aneignung von lebensnotwendigen Gebrauchsgütern. Das mittelhochdeutsche „geniesz“ bezeichnete die „gemeinsame nutznieszung“. Ganz offensichtlich war die Befriedigung originärer Bedürfnisse wie Essen, sicheres Dach über dem Kopf durch die Arbeit etwas Genussfähiges. Diese Bedeutung hat sich bis heute in Begriffen wie „Nutznießung“, „Nießbrauch“ oder in der Redewendung „in den Genuss einer Sache kommen“ erhalten.
Der Philosoph Johann Gottfried Herder beschrieb im 18. Jahrhundert den Genuss als ein sich Öffnen, eine Art Besitzergreifen, mit dem der Mensch, sich die Wirklichkeit und die Natur aneignet, sich und die Natur und sich als Teil der Natur genießt. Eine Weltsicht sinnmachender Zusammenhänge.
„In der Schöpfung ist Alles Zusammenhang, Alles Ordnung; findet also irgendwo nur ein Naturgesetz statt, so müssen allenthalben Naturgesetze walten oder die Schöpfung wird ein Chaos und stäubt auseinander. … Können Sie sich ein schöneres Gesetz wesentlicher Weisheit und Güte in dem, was Veränderung heißt, gedenken, … als dass sich Alles zum neuen Leben, zu neuer Jugendkraft und Schönheit im raschesten Lauf drängt und daher jeden Augenblick verwandelt?“ (Herder, Gott“, 1800; in Holzinger 2013, S. 91, 96, )
In seiner Schrift „Gott“ aus dem Jahr 1787 (1800) beschreibt Herder das menschliche Dasein in dieser beseelten und sich bewegenden Naturordnung als ein Gefühl „inniger Selbstgewissheit“, als unmittelbares Bewusstsein, ein Sich-Existent-Fühlen in den natürlichen Zusammenhängen („Existenz ist … Genuss“). Aus diesem Gefühl heraus tragen wir die Welt, die Wirklichkeit in uns. Der Mensch erlebt Genuss dann im Erfassen und Begreifen von diesem natürlichen Wirklichem, das er teilt.
Genuss ist also Aneignung der Welt im Nachvollziehen und Erleben einer natürlichen Ordnung. Nicht ihr unumkehrbarer Verbrauch.
Wo stehen wir heute ? Kann dieser Art verstandener Genuss noch als Gegenmittel zum modernen, reichlich leeren, oberflächlichen Genussempfinden beitragen ? Wenn die Corona- Pandemie uns aus den kommerziellen Wirk- und Arbeitszusammenhängen hinaus katapultiert ? Hilft, so genießen, die Stresslevel wieder runter zu fahren ? Wir müssen, so würde Herder uns zurufen, nicht über uns hinaus gehen, nicht weit reisen. Wir brauchen kein schnelleres Auto, nicht das neueste Smartphone.
Wir können uns in der Natur genießen : Spaziergänge machen, Jahreszeiten mit der Familie erleben, gemeinsam Essenmachen und essen zu festen Essenszeiten, gemeinsam Musik hören und musizieren, mit Freunden Filme sehen, zusammen spielen, sich unterhalten, Gartenarbeiten. Wir können die schönen Dinge zu Hause genießen. Eine Wohnfläche auch für Kunst und die eigene Kreativität.
Wir sind Teil eines sinnvollen Ganzen. Das kann man in „inniger Selbstgewissheit“ genießen.