Schon bei Herodot (* 490/480 v. Chr.; † um 430/420 v. Chr.) wurde mit dem Wort „heilig“ der göttliche Bereich vom Profanen (das Unheilige, Ungeweihte) abgegrenzt. Eine Wortdeutung, die dem Grunde nach bis heute gültig geblieben ist. Im Alten Testament steht die Heiligkeit für die Göttlichkeit Gottes selbst, die sich in Macht und Herrlichkeit den Menschen offenbart.[1] Alles, was zu Gott in Beziehung steht, gilt als „heilig“: die himmlischen Wesen, der Mensch, den Gott zu seinem Dienst sich weihte, und auch die kultischen Gegenstände. Alles ist an seinem vorgesehenen Platz.
Für Immanuel Kant steht die Heiligkeit zwar noch für eine für den Menschen – getrennt von ihm -, dem „moralischen Gesetz völlig angemessene Gesinnung“. Das Vermögen des Menschen dazu sieht er allerdings skeptisch. Das Heilige sei ein Gesetz der Pflicht, das er anstreben möge, das aber für ihn unerreichbar sei. [2]
Die Entwicklung der Moderne führt das überkommene Heilige in die vereinzelnde Loslösung vom Menschen, an einen Abgrund und mündet in Nietzsches weltbekannte Feststellung: „Gott ist tot.“ Ohne Gott kein jenseitiger Sinn, keine Heiligkeit. Die Existenz Gottes in der modernen Welt, die christliche Morallehre, damit die Verbindung zum christlichen Heiligen gilt endgültig als fragwürdig. Gleichwohl fordert Nietzsche über den Tod des Christengottes hinaus, für eine neue Zeit danach vor zu denken und „Umwertungen“ vorzubereiten. Nur ein bestimmter Gott sei gestorben. Es gelte die Dürftigkeit der überlieferten Werte zu erkennen und über sie hinauszu-wachsen.
Und heute? Ist uns heute (noch) etwas heilig? Sind wir, im Sinne Nietzsches, „vorbereitet“ und bereit über den alten Gott „hinauszuwachsen“? Steht das Empfinden von Heiligkeit, der Begriff, für die Menschen in den westlichen Ländern überhaupt noch für Religiosität, für eine Verbindung zum Göttlichen? Oder ist heilig nur noch für den Einzelnen, etwas besonderes an ihm selbst, von ihm für sich empfunden? Gibt es nur noch das „heilige“ Individuum?
Sind wir zu Nihilisten geworden?
Martin Heidegger hat die Entzauberung der Welt, also die rationale Sicht der Moderne, in folgende Worte gefasst: „Die Herrschaft von Wissenschaft und Technik beruht darauf, dass seit einigen Jahrhunderten eine Umwälzung aller maßgeblichen Vorstellungen im Gang ist. … Daraus erwächst eine völlig neue Stellung des Menschen in der Welt und zur Welt. Jetzt erscheint die Welt wie ein Gegenstand, auf den das rechnende Denken seine Angriffe ansetzt, denen nichts mehr soll widerstehen können. Die Natur wird zu einer einzigen riesenhaften Tankstelle, zur Energiequelle für die moderne Technik und Industrie.“
Zur „intellektuellen Fragwürdigkeit“ des Heiligen gesellen sich im 20. Jahrhunderts einzigartige Menschheitskatastrophen, die Weltkriege, der Holocaust, die den Glauben an eine göttliche Repräsentanz erschüttern. Die Bevölkerungsgruppe – in Deutschland, in ganz Europa – für die Religion von existentieller Bedeutung ist, der der Glaube an Gott, an ein Heiliges, Stärke gibt, Richtschnur für ein Leben mit religiösen Ritualen und Werten ist, nimmt weiter rapide ab. Seit 2024 gibt es in Deutschland erstmals mehr Konfessionslose als Angehörige der beiden großen Amtskirchen (38 Mio. Mitglieder). Strittig ist noch, ob dies zugleich auch den Abgesang auf religiöse Motive überhaupt beinhaltet, ob der „Nihilismus“ gesiegt hat: Eine Gesellschaft der weltanschaulich Abgeklärten oder der beziehungslos Gleichgültigen, die Kirchensteuern sparen wollen?
Für Martin Heidegger endete nur der theologische Zugriff auf das Heilige. Er sieht vielmehr – in der Interpretation der Gedichte des romantischen Dichters Friedrich Hölderlin – das Heilige „im Wesen der Natur“. „Indem die Natur erwacht (nach dem Ende der Gottesordnung) enthüllt sie ihr eigenes Wesen als das Heilige.“[3] Die Natur fügt alles Wirkliche in die Züge seines Wesens. Die Grundzüge des Alls entfalten sich, indem der Geist im Wirklichen erscheint und Geistiges im Geistigen widerscheint … Eine Religion ohne Gott.
Der heilige Mangel
Aber: Ist diese Zurücknahme, Selbstbescheidung genug? Stillt sie unseren Hunger nach Teilhabe an einer sinnhaften Ordnung? Oder können wir mehr erwarten? Was ist Sinn für uns? Gibt es das Heilige, das über unser individuelles Ich-bezogenes Beharren auf dem Besonderen einzelner Dinge, unserer Existenz, hinausgeht?
Der Theologe Bernhard Welte meinte (1965), dass der „Ausfall der Dimension des Heiligen“ (beginnend mit der Neuzeit) von uns als ein „uns Angehendes und Beunruhigendes“ empfunden würde. Er fragt:
„Mangelt unserer Welt nicht wirklich der Glanz der seligen und gebietenden Höhe, der Reichtum der bergenden und befriedenden Tiefe, die mit der Qualität des Heiligen verbunden zu sein scheinen, ist unsere Welt nicht gleichgültig und qualitätslos geworden in ihrem Grund, und wir in ihr Fremde? Fehlt nicht überall eine Dimension, durch die erst sie und alles in ihr uns wesentlich würde? … indem ihr [unserer Welt] das Heilige abgeht und es uns ungegenwärtig wurde, indem wir den Mangel empfinden, sind wir auf die größere Erfüllung gebietend verwiesen.“[4]
Die Enge (nach der Simulation von Weite) der Social-Media-Sphäre, zu der sich die individuellen Welten zu entwickeln auf dem Weg sind, entpuppt sich als Falle, als hyper-profane Sachgasse. Im Computer-Zeitalter formt sich die wahrgenommene Wirklichkeit zur nur noch selbstbezüglichen Simulation, die zumeist nicht die eigene ist: Natur-, Anmut-, Religiositäts-Simulationen. Das sinnliche Draußen schwindet.
Können wir uns ein neues Heiliges vorstellen?
Darüber sollten wir uns unterhalten. Im philosophischen Gespräch erfahren wir, unabhängig von seinem Ausgang, dass es mehr gibt als den materiellen, funktionalen (profanen) Alltag. Wir erarbeiten uns Metaebenen, in denen, wer weiß, vielleicht sogar ein „umgewerteter“ Gott wohnt. Heilig ist das, was wir als über unser individuelles Sein hinausgehend verstehen und erfühlen, das zugleich viele betreffen kann und nicht nur rational zu erfassen ist. Heilig können demnach auch die Familie, ein Gefühl für die gemeinsame Heimat, Sprache und Kultur sein. Sind wir dann dem „Wesen der Natur“ auf der Spur? Das Heilige macht dann Sinn – wenn wir es zulassen.
Dass es mehrere Dimensionen des Menschseins gibt, dass wir Meta-Ebene grundsätzlich können, kann niemand ernsthaft bestreiten. Philosophische Gespräche ohne ideologischen und digitalen (Dauer-)Mehltau öffnen Türen für (zuerst) intellektuelle Metebenen in menschliche Mehrdimensionalität – auch wenn diese nur vorübergehend, vergänglich ist. Den Mehltau kann gerade das philosophische Denken vertreiben.
Wenn der Willensdrang, der digitale Flow, zur Ruhe kommt, kann der Mensch Sabbat, Ostern feiern, vielleicht sogar Heiliges erfahren, das außerhalb seiner Türen bei den Anderen wohnt. Hoffnung in unruhigen Zeiten.
[1] Wer ist dir gleich, Herr, unter den Göttern? Wer ist wie du so herrlich an Majestät, furchtbar an Ruhmeswerken, ein Wundertäter? Bibel, Exodus 15, 11
[2] „Die Heiligkeit ist die absolute, unbeschränkte moralische Vollkommenheit des Willens. Ein heiliges Wesen muss nicht von der geringsten Neigung gegen die Moralität afficiret seyn. So kann also der Mensch nie heilig, wohl aber tugendhaft sein; denn die Tugend besteht eben in der Selbstüberwindung.“
[3] Heidegger, Martin, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, Klostermann Verlag, Frankfurt a.M., 2012, S. 59
[4] Welte, Bernhard, Auf der Spur des Ewigen, Verlag Herder, Freiburg im Breisgau, 1965, S. 116 f.