Wahrheit ist …

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Unter Wahrheit versteht der gemeine Menschenverstand die Übereinstimmung von Aussagen oder Urteilen mit einer Tatsache oder einem Sachverhalt in der Form einer korrekten sprachlichen Wiedergabe. Alle Philosophen forschen seit Anbeginn des (philosophischen) Denkens nach dem Wesen und der Möglichkeit von Wahrheit:

„Zu sagen nämlich, das Seiende sei nicht oder das Nicht-Seiende sei, ist falsch, dagegen zu sagen, das Seiende sei und das Nichtseiende sei nicht, ist wahr. Wer also ein Sein oder Nicht-Sein prädiziert, muss Wahres oder Falsches aussprechen.“ Aristoteles: Metaphysik 1011b (1051b)

Tiefergehende Betrachtungen sahen und sehen Wahrheit immer als Ergebnis eines offenbarenden oder entdeckenden Prozesses des Erkennens ursprünglicher Zusammenhänge oder wesenhafter Züge – wie in allen Religionen dieser Welt.

Dieses so selbstverständliche Verständnis von Wahrheit ist recht einfach zu erschüttern.

Immanuel Kant formulierte im 18. Jahrhundert die Beschränkung des menschlichen Erkenntnisvermögens und damit die Lösung von den damaligen metaphysischen Wahrheitssystemen:

„Die Gegenstände sind nicht etwa Vorstellungen der Dinge, wie sie an sich selbst sind und wie sie der pure Verstand erkennen würde, sondern Dinge sind sinnliche Anschauungen, d.i. Erscheinungen, deren Möglichkeit auf dem Verhältnisse gewisser an sich unbekannter Dinge zu etwas anderem, nämlich unserer Sinnlichkeit, beruht.“ Kant, Prolegomena, S. 39

Kant will uns damit sagen, dass wir niemals die Dinge selber und damit absolute Wahrheiten erkennen können, weil immer unser Wahrnehmung, selbst wenn sie durch wissenschaftliche Apparaturen verfeinert ist, uns nur Bilder anbieten kann, nie aber diese Dinge an sich.

„Grenzen der Erkenntnis“: 1752; James Ayscough – A short account of the Eye and nature of vision

Der Mensch ist so zunächst über seine Formen der Wahrnehmung (seine Sinnesorgane), sodann auch über seine Mittel zur Beschreibung seiner Wahrnehmung, der Sprache, von den Dingen und damit von einem absolut Wahren getrennt.

Wahrheiten müssten über Sprache (oder Zeichen) kommuniziert werden können – andere Mittel haben wir nicht -, was die Frage nach den Grenzen der Sprache aufwirft.

Sprache und Schrift sind die Ausdrucksformen, mit denen der Mensch seine Welt beschreibt, zu erfassen und zu ordnen sucht. Er versucht sie in seiner bewussten Wahrnehmung zu verdinglichen – durch Sprache. Die sprachliche Verdinglichung trägt den Schein des Abschließenden, des Absoluten in sich. Der Speicher (die Menge) der durch Sprache vermeintlich erfassten „Dinge“ ist mittlerweile auch durch wissenschaftlichen Annäherungen – zusätzlich durch ihre Digitalisierung – ins Unermessliche angewachsen.

Der Philosoph Ludwig Wittgenstein zeigt die Grenzen der Sprache, den Fehlschluss des verdinglichenden Denkens. So ist beispielsweise das ‚Denken‘ selber Teil einer konkreten (sprachlichen) Tätigkeit inmitten einer komplexen gewachsenen Umwelt, einer Lebensform – Teil eines Sprachspiels. (Philosophische Untersuchungen, § 23) Unsere Sprachspiele sind eingebettet in unsere Lebensform, den Gesamtzusammenhang der Tätigkeiten einer Sprachgemeinschaft – niemals Dinge. (PU § 7) Und: „Nur im Fluss des Lebens haben die Worte Bedeutung.“ (Letzte Schriften über die Philosophie der Psychologie, § 913) So sah das auch schon der Philosoph Friedrich Nietzsche, der die Möglichkeit einer absoluten Korrespondenz zwischen Sache und Begriff nicht erkennen konnte. Unsere Aussagen über die Welt bringen nach seiner Darstellung menschliche Verhältnisse und Perspektiven zum Ausdruck, mehr nicht.

Durch Sprache bezeichnete Gegenstände oder Vorgänge können niemals die Gegenstände,  Vorgänge selber sein. Uns stehen schlicht die Bordmittel für absolute Wahrheiten nicht zur Verfügung. Die bleiben als reine Möglichkeit – wenn überhaupt – außen vor.

Für den Philosophen Friedrich Nietzsche sind Wahrheiten ein „bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind.“ Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn.

Nietzsches grundlegende Wahrheitsskepsis unterscheidet nur zwischen mehr oder weniger akzeptablen Interpretationen, denen wir wegen ihrer erlebten oder erwünschten Wirkungen wahrhafte Geltung zuschreiben. Über die Wahrheit verfügen wir nicht.[1]

Die Skepsis gegenüber „canonischen“ Wahrheiten – auch in der Wissenschaft – ist eine alltägliche Herausforderung.


[1] Karl Popper: Methode des Kritischen Rationalismus = Die wissenschaftlichen Methoden stellen den Versuch dar, sich den Dingen soweit als möglich zu nähern. Wissen ist für Popper immer nur vorläufiges Wissen, das noch nicht widerlegt ist. Wissen wird aber immer irgendwann widerlegt. Ein Wissenssystem wird ersetzt durch ein anderes System mit höherem Erklärungs- / Anwendungsbezug (Falsifikationsthese).

Thomas S. Kuhn (1976): Die Wirklichkeit ist eine Konstruktion der Wissenschaftler selbst, weil sie mit ihren Methoden und Instrumenten eine wie auch immer geartete Auswahl darüber treffen, wie sie sich die Wirklichkeit denken.