Können wir sterben?

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Der Tod gilt als Ende jeden Lebens. Der biologische Tod des Lebewesens steht für das endgültige Versagen aller lebenserhaltenden Funktionen, beim Menschen einschließlich der Bewusstsein stiftenden Organe. Der eingetretene Tod, lateinisch Exitus letalis, kurz auch Exitus (für „Ausgang“ oder „Ende“) beendet ein individuelles Dasein. Ereignisse und Einwirkungen vor dem Tod werden als prämortal, solche nach dem Tod als postmortal oder post mortem bezeichnet.

Für die Stoiker war der Tod nichts, was für die Menschen Bedeutung haben sollte. Epikur wollte sie beruhigen, als er schrieb:

„Der Tod ist nichts, was uns betrifft, Denn das Aufgelöste ist empfindungslos. Das Empfindungslose aber ist nichts, was uns betrifft.“[1]

Die Menschen teilen zumeist die stoische Gleichgültigkeit im Angesicht des eigenen Endes weiterhin nicht. Der Tod macht ihnen Angst, schon immer. Die Möglichkeit vor dem radikalen Nicht-Sein zu stehen, verursacht Ängste, selbst dann, wenn wir wissen, dass wir diesen Zustand als bewusste Individuen – post mortem – nicht selber erleben werden. Wie kann man vor etwas Angst haben, das man nicht erlebt?

Für den Philosophen Arthur Schopenhauer ist der Mensch zunächst eine „Objektivation des Willens zum Leben“[2], ein Werden seiner selbst. Der Wille, rein an sich betrachtet, ist, so Schopenhauer, erkenntnislos und nur ein „blinder, unaufhaltsamer Drang“ – wie bei den Pflanzen und Tieren mit nur geringen Abstrichen zu beobachten. Der Wille strebt danach, sich zu verwirklichen, sich erscheinend zur gelebten Gegenwart zu machen. Erst wenn die im Dienste des Willens entwickelte „Welt der Vorstellung [das menschliche Selbst-Bewusstsein] hinzutritt, erhält der Wille Erkenntnis von seinem Wollen und von dem was es sei, das er will: dass es eben nichts anderes sei als diese Welt, das Leben, grade so, wie es dasteht.“[3]

In der „Vorstellung“ wird dem Willen sein Spiegel vorgehalten, in welchem er sich selbst erkennt. Die Selbstidentität, die der Willen anstrebt, ist das Leben, die Welt, die er konstituiert. Das kann der Wille in der Vorstellung, sich vorstellend, erkennen. Das Vorstellen begleitet den menschlichen Willen.

Der Wille aber ist ein Wille zum Leben. Die menschliche Angst vor dem Tod ist so nur notwendig, weil er das Leben, den Willen zum Leben, beendet. Das können wir nicht wollen. Die Angst vor dem Tod ist natürliches Nicht-Enden-Wollen.

In früheren Zeiten unmöglich, haben wir heute durchaus folgerichtig den Tod und damit die Angst vor ihm im Alltagserleben beiseite geschoben. Wir glauben, uns das Verdrängen erlauben zu können: viele tödliche Gefahren bestimmter Krankheiten und Kriege sind beseitigt, oder doch in den Hintergrund getreten. Wir sind gegen Lebens-Risiken Krankheit, Alter und Tod versichert. Der digitale Multimedia-Space simuliert unendliche Präsenz. Es regiert ein permanenter, eng getakteter Präsentismus, der keine Zeit mehr für Unterbrechungen und Enden, für Todesängste, zulässt.

Der postmoderne Mensch lebt nicht mehr im Angesicht des alles beendenden Todes. Der Wille strebt zweifelsohne Unendlichkeit an.[4] Er lebt in seiner Vorstellung bis ins Alter in der juvenilen Illusion seiner Unsterblichkeit. Mit dem kommoden Verdrängen des Todes hat auch das Interesse daran, was danach kommen könnte, deutlich nachgelassen.[5]

Ausnahmen stellen noch das konkrete Erleben des Todes im Familien- und Freundeskreis dar. Der „moderne Tod“ der Anderen ereignet sich oft unsichtbar in spezialisierten Einrichtungen, Hospizen, Krankenhäusern, Pflegeheimen. (Persönliche) Geschichte, jede Vergangenheit und Zukunft verschwinden oft sang- und klanglos.

Ist die Angst vor dem Tod aber nicht auch die Furcht, das Ausweichen davor, die eigenen Möglichkeiten nicht erreicht und umgesetzt zu haben, den „Willen nicht objektiviert“ zu haben? Was ist aber, wenn wir im Alter alles erreichen, erreicht haben, was wir sein konnten? Wenn wir unseren „Willen objektiviert“ haben? Wenn wir uns verwirklicht, gelebt haben und uns auch so (an)erkennen? Mindert das erkannte und empfundene Erreichen des Möglichen, die Selbstverwirklichung, den Schrecken vor dem unausweichlichen Nichtmehr-Sein?

Der sich selbst betrachtende Wille sieht und erkennt sich, so Schopenhauer, als Teil der größeren Bestimmung, der eben dieser vollendete individuelle Wille (sein genetischer Code) ist. Sein Wesen kann durch den Tod nicht zerstört werden. Es vollendet ihn nur.

„Dem Willen zum Leben ist also das Leben gewiß, und solange wir vom Lebenswillen erfüllt sind, dürfen wir für unser Dasein nicht besorgt sein, auch nicht beim Anblick des Todes.“[6]

Wolfgang Overath, Fußballweltmeister von 1974 (in: Welt, 28.09.2023):

„Wenn wir als Kinder hörten, dass einer 80 ist, haben wir gesagt: Der ist doch schon fast tot“, sagt er: „Und nun bin ich selbst so alt und es rückt immer näher.“ Overath beschäftigt sich mit dem Tod, und er spricht auch offen darüber. „Schließlich bin ich hundealt und gehe auf die 100 zu“, sagt er lachend: „Wenn es morgen oder übermorgen zu Ende geht – und das kommt ja immer näher auf mich zu – dann kann ich sagen: Ich habe so ein wunderbares Leben gehabt, dass es schöner nicht geht. Und jeden Abend bevor ich schlafen gehe, danke ich dem da oben dafür.“ Sein einziger Wunsch zum Geburtstag sei deshalb: „Gesund bleiben. Wenigstens noch für eine gewisse Zeit.“

Können wir sterben?

Meine Leser mögen es mir nachsehen, dass ich mich dieses Mal aufgrund eines Todesfalles mit dem Thema Tod beschäftige.


[1] Epikur, Brief an Menoikeus

[2] Unter dem Schopenhauerschen Willen wäre heute wohl der genetische Code zu verstehen.

[3] Schopenhauer, Arthur, Die Welt als Wille und Vorstellung I, § 54

[4] Im Silicon Valley denkt nicht nur Google-Gründer Larry Page darüber nach, wie das Bewusstsein digitalisiert werden kann, damit es – auch ohne Körper – unendlich weiter existieren kann. Tesla-Chef und globales „Enfant terrible“ Elon Musk träumt ebenfalls transhumanistisch und arbeitet mit einem seiner Unternehmen an der Entwicklung von Brain-Computer-Interfaces.

[5] Waren 1990 noch etwa 57,9 Millionen Deutsche Mitglied einer christlichen Kirche, sind es heute fast 17 Millionen Gläubige weniger. Zugleich ist die Bundesbevölkerung weiter angestiegen. Die Kirchen haben seither über ein Viertel ihrer Anhänger verloren haben. Im Jahr 2021 ist die Anzahl der Kirchenmitglieder erstmals unter die Marke von 50 Prozent der Gesamtbevölkerung gefallen.

[6] Schopenhauer, Arthur, Die Welt als Wille und Vorstellung I, § 54