Décadence – Die Philosophie des Niedergangs – und des Aufstiegs

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Der im Ursprung französische Begriff décadence stammt von lateinisch cadere „fallen“, „sinken“. In der Philosophie steht die décadence für Veränderungen in Gesellschaften und Kulturen, die mit Verfall, Niedergang beziehungsweise Verkommenheit gedeutet und kritisiert werden – als Ursprungsparadigma gilt der Untergang des römischen Imperiums. Erste philosophische Auseinandersetzungen mit dem Begriff der Décadence finden sich in der französischen Philosophie des 17. Jahrhunderts. In Nicolas Boileaus „Réflection critiques sur quelques passage du Retheur Longin“ (1693) wird der Verfall (décadence) des Geschmacks (goût) zum wesentlichen Moment der Auflösung der Kultur.

Der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche unternahm gegen Ende des 19. Jahrhunderts den Versuch, die kulturphilosophische und ästhetische Bedeutung der décadence in seinem Land zusammen zu denken. Die décadence galt ihm als ein notwendiges Durchgangsstadium im Entwicklungsprozess des Lebens, in der sich zugleich auch übersteigerte Sensibilität und Kunstaffinität seiner Zeit ausdrückte. Die décadence-Ästhetik verkörperte sich für ihn in der zeitgenössischen Kunst, der Moderne, deren Paradigma das Werk Richard Wagners ist.[1] Der Prozess erfasst den Einzelnen ebenso wie die geschichtliche Epoche, führt nach dem Niedergang aber auch zum Wiederaufstieg.

„Wo in irgendeiner Form der Wille zur Macht niedergeht,“ so Nietzsche, „giebt es jedes Mal auch einen physiologischen Rückgang, eine décadence. Die Gottheit der décadence, beschnitten an ihren männlichsten Tugenden und Trieben, wird nunmehr nothwendig zum Gott der physiologisch-Zurückgegangenen, der Schwachen.“[2] Diese präge sich in individueller – „dekadente“ kunstaffine Sensibilität -, wie gesellschaftlicher Form – Zerfall der Strukturen – aus, betreffe also den Menschen selber ebenso wie die gesamte Epoche und ihre Kunstwerke.

Soziale Prozesse vollziehen sich in einem ewigen Kreislauf von Aufstieg und Verfall, nach dem Modell organischen Werdens und Vergehens. Die Geschichte ist in dieser Sichtweise kein fortlaufender Prozess hin zu bestimmten Zielen, sondern folgt einem zyklischen Gesetz.

„Jede Zeit hat in ihrem Maass von Kraft ein Maass auch dafür, welche Tugenden ihr erlaubt, welche ihr verboten sind. … Entweder sie hat die Tugenden des aufsteigenden Lebens: dann widerstrebt sie aus unterstem Grunde den Tugenden des niedergehenden Lebens. Oder sie ist selbst ein niedergehendes Leben, – dann bedarf sie auch der Niedergangs-Tugenden, dann hasst sie Alles, was aus der Fülle, was aus dem Überreichthum an Kräften allein sich rechtfertigt.“[3]

Die grundlegende Einheit des Seienden wird im décadence-Prozess durch eine Dominanz der Einzelreize abgelöst oder beendet. In den geistigen und künstlerischen Strömungen herrscht das Prinzip des Auseinanderdividierens, der Dekonstruktion. Nietzsche beschrieb diesen Prozess in Briefen an seinen Freund C. Fuchs 1888 wie folgt:

„… das Leben [hat sich]aus dem Ganzen zurück gezogen und im Kleinsten luxuriert. … Der Theil wird Herr über das Ganze, die Phrase über die Melodie, der Augenblick über die Zeit.“

In Thomas Manns ersten Roman „Buddenbrooks“ aus dem Jahr 1901 wird die Dekadenz zum literarischen Thema. Schon der Untertitel nennt den „Verfall einer Familie“. Der für Nietzsche charakterisierte Doppelaspekt der Dekadenz – (biologischer) Verfall, Dekonstruktion, bei geistiger, künstlerischer Verfeinerung – wird in der Figur des Knaben Hanno Buddenbrook, die vierte Generation der Familiensaga, ausgeführt. Er ist der letzte, kränkliche und künstlerisch veranlagte Spross der Familie, die ihrem Verfall, ihrem Verschwinden entgegen geht [4]: Die zunehmende Sensibilität in den Generationen wird mit dem Scheitern in der Lebenswirklichkeit erkauft:

Der „Prozess der Entbürgerlichung, der biologischen Enttüchtigung durch Differenzierung, durch das Überhandnehmen von Sensibilität“ zeigt, „dass der Verfall zugleich Verfeinerung und Steigerung bedeuten kann.“[5]

Mit dem letzten Buddenbrook stirbt die Familie aus. Zugleich endet eine Epoche.

Würde man diesen Ansätzen folgen und behaupten können, dass Deutschland und Europa nach Jahrzehnten des kraftvollen Aufschwungs nach dem zweiten Weltkrieg erneut in eine Phase der décadence eingetreten sind? Wo stehen wir heute? Zerfällt, dekonstruiert sich unsere deutsche Gesellschaft nicht tatsächlich gerade in vielerlei (ethnisch-kulturelle) Parallelgesellschaften? Ist eine zunehmende Entfremdung weiter Teile der Bevölkerung von ihren politischen und medialen Eliten nicht mit Händen zu greifen? Leidet die Gesellschaft möglicherweise, im Sinne von Thomas Mann, an „biologischer Enttüchtigung durch Differenzierung“? Sogar die gemeinsame Sprache als gemeinsamer Nenner scheint verloren zu gehen. Unterschiedliche Sprachen und Sprachcodes breiten sich aus, bspw. die nach größerer Sensibilität heischenden Gender-Sprachformen. Die unterschiedlichen Gruppen „luxurieren“, fordern mit großer intoleranter Rigidität Sensibilität und Toleranz für sich. Wir leben in einem Deutschland, das tief gespalten ist, das sich dekonstruiert, in dem politische Lager unversöhnlich und ausgrenzend, mitunter schon gewaltbereit nebeneinander, sich gegenüber stehen. In dem die Forderung nach Vielfalt in allen Lebensbereichen mit der Auflösung arbeitsfähiger öffentlicher Strukturen einhergeht.

Es begann mit der Europapolitik, beschleunigte sich mit der Flüchtlingskrise seit 2015, steigerte sich während des Corona-Pandemiemanagements und eskaliert durch immer autoritärere Züge der Woke-Bewegung und der Klimapolitik.

In den Buddenbrooks versinkt am Ende die liberale patrizische Bürgerwelt mit ihren Tugenden und Grenzen. Am Horizont ziehen die dunklen Wolken einer neuen, von Militarismus, Technik und Expansionsdrang geprägten Epoche herauf …


[1] Zur Charakteristik der Modernität schreibt Nietzsche, dass sie den „Abbruch der Traditionen“ bedeute, die Auflösung aller Autorität, alles Respekts aller Traditionen“. Hieraus resultieren Desorganisation und eine latent schwelende Anarchie, die sich hinter den modernen Institutionen verbirgt. Dagegen rege sich jedoch „der Instinkt der Tradition, die tiefste Verachtung gegen alles, was Tradition unterbrach […]. Der Instinkt gegen die Degenerescenz.“

[2] Friedrich Nietzsche in: Der Antichrist, § 17. 

[3] Friedrich Nietzsche in: Der Fall Wagner, Epilog

[4] Mann, Thomas, Buddenbrooks, S. Fischer Verlag, Berlin, 1930, S. 673 ff.

[5] Mann, Thomas, Lübeck als geistige Lebensform, S. 73

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