Eine neue Philosophie des Herbstes – Das Sein des Herbstes ist ein romantisches Sein

HerbstmalereiHerbstmalerei

Im Herbst färben sich die Blätter der Bäume und Sträucher, fallen zu Boden und rascheln und fliegen, wenn der Wind durch sie hindurch fegt. Das Leben der Bäume und Sträucher zieht sich nach innen zurück. Der Herbst ist die Zeit des Reifens, der Ernte, dann endet die Natur vorübergehend im vegetationsfreien Winter. Die Herbststürme machen den scheinbaren Verfall unumgänglich.

Wie die Jahreszeiten ist unser Leben in ständigem Wandel, Lebensabschnitte gehen zu Ende, Perspektivwechsel können anstehen, ein Rückblick auf Vergangenes, Erreichtes, Überwundenes. Raus aus dem Flow. Was ist gelungen und was nicht? Wohin soll es gehen?

Der Herbst gilt als Jahreszeit des Innehaltens, des Sich-Zurücknehmens, der romantischen Heimkehr in die häusliche Nussschale, zu sich selbst. Er führt uns wie keine andere Jahreszeit die Vergänglichkeit vor Augen. Hat sich diese natürliche Seinsmöglichkeit durch Klimaveränderungen, durch die zunehmende Heterogenität der Gesellschaft, deren abweichende Wahrnehmungsweisen, verändert ? Sicher in den nachromantischen Jahrhunderten[1], sogar besonders in den letzten Jahren? Können wir die jahreszeitliche, romantische Heimkehr im Einklang mit der Natur noch leben, sie zu unserem vorübergehenden Dasein machen? Können wir Romantiker sein?

Kann die Romantik, die philosophisch, dichterische Denkschule des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts, in der Jetztzeit zu uns sprechen? Ich meine Ja, wenn man das Romantische als Geisteshaltung ansieht und nicht nur als vergangene Epoche. Die Romantik war immer mehr als eine Epoche. Wir können Romantiker sein.

Die Zeitkritik des Dichters der deutschen Romantik, Friedrich Hölderlin, gegen die damals schon erahnte Moderne,[2] könnte mit etwas anderen Worten auch heute formuliert werden. Die Menschen seien ein „schlaues Geschlecht“ geworden, das sich die Natur unterworfen hätte. Die Dinge würden nun nach der wissenschaftlichen Durchdringung „nackt“ betrachtet. Das „Sehrohr“ dringe in die entlegensten Weiten des Alls, sagte Hölderlin. Für ihn waren wir schon damals die im Sinne der Wissenschaften „Vielerfahrenen“ und meint damit den Verlust, Dinge, Natur, menschliche Beziehungen in ihrer Lebendigkeit in einem ursprünglichen oder besonderen Dasein zu erleben. Der „Geist“, das ursprünglich Lebendige, sei aus der Welt gewichen. „Götternacht“ nennt er das und meint den Verlust der immanenten Bedeutsamkeit und Strahlkraft der innerweltlichen Verhältnisse für den Menschen. Die Sprache sei „verdorrt“.

„Die Götter verschwanden mit ihrem Gefolge – Einsam und leblos stand die Natur. Mit eiserner Kette band sie die dürre Zahl und das strenge Maß. Wie in Staub und Lüfte zerfiel in dunkle Worte die unermessliche Blüte des Lebens.“[3]

Die eigene Geisteshaltung der Romantiker wollte anderes. Sie wollten eine neue, bessere Welt, ein „Goldenes Zeitalter“. Philosophie und Poesie, Wissenschaften, Künste und Religion sollten ineinander aufgehen. Die Welt sollte poetisiert, in einem Gesamtkunstwerk einig werden, zusammen wachsen. Der Mensch sollte sich selbst verwirklichen. Die Romantik war der Aufbruch junger Menschen in eine neue Zeit.

„Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennte Gattungen wieder zu vereinigen und die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen. Sie will und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig, und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen, …. Sie umfasst alles, was nur poetisch ist, vom größten wieder mehr Systeme in sich enthaltenden System der Kunst bis zu dem Seufzer, dem Kuß, den das dichtende Kind aushaucht in kunstlosem Gesang.[4]

Vor allem die Einbildungskraft, der ungebundene Geist der Phantasie, hebt den Menschen der Romantik über die Endlichkeit hinaus ins Reich der Ideen, Visionen, Utopien, lässt ihn über allem Bedingten schweben. Die Realität ist zumeist oder zuerst, das wissen die Romantiker, eine andere, zurück bleibt eine nie zu stillende Sehnsucht. Die „blaue Blume, von der Novalis in seinem Roman „Heinrich von Ofterdingen“ spricht, wurde zu einem Symbol der romantischen Sehnsucht nach dem Unendlichen.[5]

Die romantische Epoche ist lange vorüber – und doch: Das Weltbild der Romantik war getragen vom Bewusstsein der Veränderlichkeit (Vergänglichkeit) der Welt und der Menschen, von der Prozesshaftigkeit alles natürlichen Geschehens, von der Unerschöpflichkeit der Entwicklungsmöglichkeiten alles Gegebenen. Eine eindeutige und abschließende Beschreibung der Welt, der Beziehungen der Dinge und Begriffe – zumal in einem philosophischen System – konnte (kann) es nicht geben.

„Die romantische Dichtart ist noch im Werden; ja, das ist ihr eigentliches Wesen, daß sie ewig nur werden, nie vollendet sein kann. Sie kann durch keine Theorie erschöpft werden, …“[6]

Sie wollten, hier durchaus an die Aufklärung anknüpfend, die kritische Reflexion der Künste, der Religion, der Literatur. Friedrich Schlegel sprach von einer „lebendigen Kritik des Geistes“, also einer kritischen Selbstreflexion aller geistigen Aktivitäten. Der Mensch selber wird zur komplexen Einheit, in der Vernunft und Sinnlichkeit, Rationalität und Emotion zusammenkommen – ein Spannungsfeld, mitunter Schlachtfeld aus Endlichkeit und Unendlichkeit, Körper und Geist, Determinismus und Freiheit, Innerlichkeit und Weltzugewandtheit. Der Mensch, ein überaus vielschichtiges Wesen, lässt die in ihm waltenden Kräfte ständig miteinander ringen. Er ist Bilden und Gestalten, ein Werden ohne Stillstand. Der Mensch und seine Geschichte enden nicht.

Die romantische Idee der Einheit alles Seienden erfasst auch die Beziehung zur Natur. Sie ist dem Menschen nicht das Äußerliche, als Material für sein Handeln, sondern sie wird zum Lebensraum des Menschen und seiner Lebensgrundlage. Das Ideal bestand in der Harmonie zwischen dem Menschen und der Natur – nicht in der Beherrschung, der Herrschaft über sie.

Die romantische Naturphilosophie suchte nach einem ganzheitlichen Naturverständnis als Gegenmodell zur mechanistischen und mathematischen Naturerklärung, die seit der Neuzeit die Naturwissenschaften prägte. Der Mensch soll die Jahreszeit sein, im Naturerleben aufgehen – eine beseelte Natur, ein romantischer Herbst.

„Ich liege am Busen der unendlichen Welt : ich bin in diesem Augenblick ihre Seele, denn ich fühle alle ihre Kräfte und ihr unendliches Leben, wie mein eigenes, sie ist in dem Augenblicke mein Leib, den ich durchdringe ihre Muskeln und Glieder wie meine eigenen, und ihre innersten Nerven bewegen sich nach meinem Sinn und meiner Ahndung wie die meinigen.“[7]

Wir leben heute wieder in einer Zeit der Umbrüche, neuer Wirtschaftskrisen und Kriege. Möglicherweise sind die natürlichen Lebensgrundlagen, die Natur selber durch das sich verändernde Weltklima gefährdet. Der Glaube an Transparenz und Kalkulierbarkeit des Seins wird auch im Westen schwächer. Das Rätselhafte, etwas Unberechenbares, ein anderer Umgang mit den Versprechen der rationalen Naturwissenschaften scheint – wie in der Zeit der Romantik – in der Luft zu liegen. Die Vorherrschaft westlichen, der Grundannahme nach rationalen, vernünftigen Denkens ist global auf dem Rückzug. Auch bei uns vermuten wir „Schwurbler“, Wissenschaftsleugner auf dem Vormarsch ? Wer erfindet und transportiert „Fake News“, sind es welche ? Der Islamismus und sein Terror geben Anlass zu der Annahme, dass die planende Vernunft des Westens, in dem sich der Islamismus durch Migration bereits eingerichtet hat, aus dem Ruder läuft. Eine dunkle Natur schiebt sich in die Wahrnehmung. Diese Bewegungen sind nach Jahrhunderten der Aufklärung rational nicht zu erklären. Sie rühren daher an das Selbstverständnis der Menschen in unseren, westlichen Gesellschaften.

Wenn sich das Rationale aus den menschlichen Wirklichkeiten zurückzieht, macht es dann nicht Sinn, wenn auch wir uns mehr dem Irrationalen, dem Nicht-Erklärbaren als unabdingbarem Bestandteil der Menschenwelten zu öffnen? Auch zu unserem eigenen Schutz?

Phantasien über Geheimbünde und geheime Komplotte erregten die Öffentlichkeit in der romantischen Epoche in einem Ausmaß, das wir uns heute im Zeitalter des islamistischen Terrors und von Corona-Verschwörungstheorien ganz gut vorstellen können.[8] Die Romantiker waren Verkünder eines Mentalitätswandels, der den rationalistischen Geist der Aufklärung zurück drängte. Neu zeigte sich eine Lust am Geheimnisvollen und Wunderbaren. Das Leben wird zum Schicksal. Menschen können grundlos abstürzen oder in ungeahnte Höhen steigen.

„Manches bleibt in Nacht verloren.“, formulierte Eichendorff.

Kann unsere Antwort auf die aktuellen Verwerfungen in unseren in Jahrzehnten gewachsenen, aufgeklärten Sehgewohnheiten womöglich eine romantische sein? Die Romantiker wussten, dass sie unerreichbare Visionen zeichneten. Ihre Sehnsucht nach dem Unendlichen war aus diesem Grund oft von einem Gefühl der Melancholie begleitet. Die beste Definition des Romantischen stammte gleichwohl von Novalis: „Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich.“

Dennoch : Liegt in unserer neuen Ungewissheit nicht auch eine Chance, mit der wir unseren Leben neue (poetische) Bedeutsamkeit und Ziele geben können ?

„… das köstlichste, was der Mensch hat, die innere Zufriedenheit selbst hängt, wie jeder leicht wissen kann, irgendwo zuletzt an einem solchen Punkte, der im Dunkeln gelassen werden muss, dafür aber auch das Ganze trägt und hält und diese Kraft in demselben Augenblick verlieren würde, wo man ihn im Verstand auflösen wollte. Wahrlich, es würde euch bange werden, wenn die ganze Welt, wie ihr es fordert, einmal im Ernst durchaus verständlich würde.“[9]

Müssen wir nicht sogar in einer Welt, die zusehends nicht nur irrational, sondern wie im Islam vorsätzlich antirational mit apodiktischer Religion agiert, selber unser Verhältnis zum Unerkennbaren, zur Religion, neu klären? In einer irrationalen, sich archaisch verhaltenden Welt, versteht der rational sich verstehende Westen, wir, möglicherweise die Welt nicht mehr. Religionen hätten auch eine desintegrierende Kraft, selbst in den besten religiösen Leidenschaften liege eine Gefahr, warnte schon Alexis de Tocqueville : „Wenn sie bis zu einem gewissen Punkt getrieben wird, lässt sie sozusagen, mehr als die anderen Leidenschaften, alles andere verschwinden, was sie nicht selbst ist, und sie bringt im Namen der Moral und der Pflichten die nutzlosesten und gefährlichsten Bürger hervor.“

Ist es nicht höchste Zeit, dass sich ein religionslos, ungläubig gewordener Westen wieder dem Unerkennbaren, der Religion, zuwendet, intellektuell und lebenspraktisch – nach Maßgabe seiner eigenen Traditionen und (romantischen) Denkschulen ? Sonst könnte er am Ende die Welt in der Tat nicht mehr verstehen – und abgelöst werden. Die Annahme, das Ende der Geschichte sei erreicht, das westliche Weltbild der Aufklärung in einer rationalen Weltordnung habe mit dem Ende des Sowjetimperium für alle Zeiten gesiegt, hat sich jedenfalls als Irrtum herausgestellt.

Der Herbst ist die beste Jahreszeit, um sich nach innen zu wenden. Raus aus dem Flow. Was ist gelungen ? Wohin soll es gehen ?

„Wir haben keine Mythologie. Aber ich setze hinzu, wir sind nahe daran eine zu erhalten, oder vielmehr es wird Zeit, daß wir ernsthaft dazu mitwirken sollen, eine hervorzubringen.“ [10]

Der Herbst

Die Sagen, die der Erde sich entfernen,
Vom Geiste, der gewesen ist und wiederkehret,
Sie kehren zu der Menschheit sich, und vieles lernen
Wir aus der Zeit, die eilends sich verzehret.

Die Bilder der Vergangenheit sind nicht verlassen
Von der Natur, als wie die Tag’ verblassen
Im hohen Sommer, kehrt der Herbst zur Erde nieder,
Der Geist der Schauer findet sich am Himmel wieder.

In kurzer Zeit hat vieles sich geendet,
Der Landmann, der am Pfluge sich gezeiget,
Er siehet, wie das Jahr sich frohem Ende neiget,
In solchen Bildern ist des Menschen Tag vollendet.

Der Erde Rund mit Felsen ausgezieret
Ist wie die Wolke nicht, die abends sich verlieret,
Es zeiget sich mit einem goldnen Tage,
Und die Vollkommenheit ist ohne Klage.[11]

Friedrich Hölderlin


[1] Die Romantik gilt als eine kulturgeschichtliche Epoche, die vom Ende des 18. Jahrhunderts bis weit in das 19. Jahrhundert hinein dauerte und sich insbesondere auf den Gebieten der bildenden Kunst, der Literatur und der Musik äußerte, aber auch die Gebiete Geschichte, Theologie und Philosophie sowie Naturwissenschaften und Medizin umfasste.

[2] Im 19. Jahrhundert wurde es üblich, mit dem Wort „Moderne“ die Gegenwart von der Vergangenheit allgemein abzugrenzen. Die Moderne bezeichnet historisch einen Umbruch in zahlreichen Lebensbereichen gegenüber der Tradition, bedingt durch die erste Industrielle Revolution, Aufklärung und Säkularisierung. 

[3] Novalis, Hymnen an die Nacht, in: Athenaeum, S. 353

[4] Athenaeum, Zeitschrift von August Wilhelm und Friedrich Schlegel [1798 -1800], Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig, 1984, [116], S. 75

[5] Novalis, Gesammelte Werke, Fischer Verlag GmbH, Frankfurt a.M., 2008, S. 204 ff.

[6] Athenaeum, [116], Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig, 1984, S. 75

[7] Schleiermacher, Friedrich, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern

[8] Safranski, Rüdiger, Romantik – Eine deutsche Affäre, Carl Hanser Verlag, München, 2007, S. 54 f.

[9] Schlegel, Friedrich, Über die Unverständlichkeit; In: Athenaeum, Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig, 1984, S. 379

[10] Schlegel, Friedrich, Rede über die Mythologie; In: Athenaeum [1800], Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig, 1984, S. 294

[11] Hölderlin, Friedrich, Gesammelte Werke, Späteste Gedichte, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, 2014, S. 295