Dunkelheit bestimmt die Tage im Winter. Helligkeit scheint nur für wenige Stunden auf. Dann ist der Himmel oft wolkenverhangen, düster. Die Luft ist rau von der Kälte. Mitunter treibt ein gemeiner Ostwind feines, eisiges Granulat über verharschte blanke Felder. Die Vegetation ist Kälte und Dunkelheit gewichen, ist schon seit einiger Zeit erloschen. Bäume und Sträucher hängen kahl und stumm im Raum. Morgens hängt Nebel über weißen Feldern und Wiesen.
Wer kann, zieht sich in warme Innenräume zurück: Die andauernde Nacht des Winters ist das Innen, das In-Sich-Sein, ohne Ablenkung und Auflösung im natürlichen Außen. Manchen Menschen macht der Winter Angst. Sie können sich nicht vorstellen, dass je wieder Leben austreiben wird. Im Winter scheint der Sommer für immer verschwunden. Eiszeiten fangen sicher an wie ein normaler Winter …
Der Winter ist auch die Jahreszeit, in der Menschen zusammenrücken und sich Gefühle zeigen. Auch Menschen, nicht nur die Vegetation und die Tiere, treten nun kürzer, sollten ausruhen. Das geringe Tageslicht schlägt sonst aufs Gemüt, kann überfordern.[1] Besser, wir nehmen uns Zeit, machen es uns bequem und beginnen womöglich sogar zu schmökern.
„Im Fauteuil haust auch das winterliche Lesevergnügen. … Zu einem reinen, inhaltslosen Dasein hat kaum ein buddhaistischer Philosoph den Muth. Der unbewußte Tiefsinn der Sprache hat Unterhaltung Zeitvertreib genannt, aber Zeit ist Leben, die Zeitlichkeit ist die Form der irdischen Existenz. Wer uns über die Qual und die Schwere desselben täuscht, wer uns das bloße Leben vergessen macht, indem er uns unterhält, ist unser Wohlthäter.“[2]
Wenn im Winter die Grashalme weiß und steif werden, womöglich plötzlich Schnee die Landschaft in eine Winterlandschaft verwandelt, verbreitet sich mit sanftem Nachdruck eine andere atemberaubende Helligkeit in der andauernden Nacht. Die Jahreszeit kann zum Geschichtenerzähler und „Wohlthäter“ werden, im Märchenland? Atemwölkchen vor den Mündern. In den meisten Häusern und Straßen zieht die Vorfreude auf Weihnachten ein – mit seinen besonderen Gerüchen und Düften, mit Lichtern, Kerzen im Dunklen. Wir können beobachten, wie die Natur ihr Antlitz verändert, wie sie anders wird und doch unseren Alltag bestimmt. Jede Schneeflocke ein Winter-Schmetterling, ein Kunstwerk? Schön und flüchtig. Wer will, zieht sich schön warm an und wagt eine Schneeballschlacht im Wunderland – wissend, dass später im warmen Nest eine heiße Tasse Kakao wartet.
Es ist ein Verdienst des Christentums, der anderen Hälfte, in die kalte und kahle Jahreszeit, ihrer Dunkelheit, Geschichten und Lichter für die Seele zu setzen und dem Bedrohlichen das Verheißungsvolle, die Möglichkeit einer Offenbarung zu geben. Im Winter folgt auf die Adventszeit die Feier einer Geburt.[3] Jede Woche ein Licht mehr. Weihnachten ist ein Fest der Liebe und des Lichts, der Hoffnung. In der Dunkelheit der Weihnachtstage und -nächte feiert die Gemeinschaft das Leben, viele die Geburt eines Heilands. Der dunkle Winter bekommt etwas Verheißungsvolles, eine fröhliche Wendung. Das Narrativ lautet: Hab keine Angst, Mensch, erfreue dich am Licht, dem Stern in der Dunkelheit, an der Botschaft des unendlichen Lebens – gerade dann, wenn die Nacht ewig dauert und das Leben am fernsten zu sein scheint.
„Die Nacht wird der Offenbarungen mächtiger Schoß.“ Sagte der Dichter und Philosoph der Romantik Novalis in den „Hymnen an die Nacht“[4] und meinte damit das Erleben der Liebe in den dunklen Stunden der Nacht, die die Angst vor dem Tod in der dunklen Jahreszeit überwinden kann.[5] Sieht man mit dem liebenden Blick ins Dunkle, findet man dort immer etwas: „Himmlischer als jene blitzenden Sterne … Dünken uns die unendlichen Augen, die die Nacht uns geöffnet.“[6] Und sein Freund Friedrich Schleiermacher war der Auffassung, die Menschen könnten teilhaben am Göttlichen im Hier und Jetzt. Die Unsterblichkeit sei nichts anderes als „mitten in der Endlichkeit eins werden mit dem Unendlichen und ewig sein in einem Augenblick.“[7] Auch darum geht es uns beim Erleben der Helligkeit in der dunklen Jahreszeit.
„Im verhältnismäßig kurzen Zeitraume eines Jahres kehren die kirchlichen Feste regelmäßig wieder und abgesehen von ihrer religiösen Bedeutung werden sie wegen ihrer rein menschlichen Wirkung und Wichtigkeit mit einer freudigen Hingebung des Gemüthes aufgenommen, … .“[8]
Die Kälte des Winters mit seinen dunklen Tagen und langen Nächte, aus gefühltem Nichtsein und Leere beim unausgesetzten Verwiesensein auf uns selbst, können wir angenehm auflösen. Das Verstörende und bedrohlich Dunkle wird durch die Kraft der Menschengemeinschaft zum Hintergrundrauschen, in der Erlösung und Lust warten. Für die Romantiker war die Nacht die Stunde einer großen Verwandlung. Vor allem die Liebe hilft dabei, im Winter nicht zu frieren! Der Jahreskreis schließt sich mit heidnischem Silvesterfeuer. Im Winter ist mehr Licht. Mit etwas Glück und Achtsamkeit haben wir einen romantischen „Augenblick der Unendlichkeit“ in uns erlebt. Nach dem Winter beginnt das Leben von Neuem.

„Man verläumdet die Menschen, wenn man sie ausschließlich für das Neue, für die Abwechslung empfänglich nennt, wenn man die Sehnsucht nach Veränderung für das wesentliche Motiv ihrer Freuden, den Wandel der Dinge für das hauptsächliche Interesse hält, das sie an ihnen nehmen. Im verhältnismäßig kurzen Zeitraum eines Jahres kehren die kirchlichen Feste regelmäßig wieder und abgesehen von ihrer religiösen Bedeutung werden sie wegen ihrer rein menschlichen Wirkung und Wichtigkeit mit einer freudigen Hingebung des Gemüthes aufgenommen, als ob, was sein Alter nach Jahrtausenden zählt, die neueste Erfindung des Tages, eine eben aufgetauchte Mode wäre.“[9]
[1] Forscher fanden heraus, dass Suizidgedanken im Winter am häufigsten auftreten: The impact of trends, seasons, day of the week, and time of day on explicit and implicit cognitions among an online community sample; siehe: www.nature.com/articles/s41398-023-02434-1
[2] Lorm, Philosophie der Jahreszeiten, S. 288 ff.
[3] „Die Adventszeit hat einen doppelten Charakter: sie ist einerseits Vorbereitungszeit auf die weihnachtlichen Hochfeste mit ihrem Gedächtnis des ersten Kommens des Gottessohnes zu den Menschen. Anderseits lenkt die Adventszeit zugleich durch dieses Gedenken die Herzen hin zur Erwartung der zweiten Ankunft Christi am Ende der Zeiten. Unter beiden Gesichtspunkten ist die Adventszeit eine Zeit hingebender und freudiger Erwartung.“ Grundordnung des Kirchenjahres und des Neuen Römischen Generalkalenders, Nr. 39.
[4] Novalis, Gesammelte Werke, Hymnen an die Nacht, Fischer Taschenbuch, Frankfurt a.M., 2015, S. 112
[5] Novalis, Hymnen an die Nacht, S. 106: Für Novalis war der Tod seiner jugendlichen Geliebten Sophie eine individuelle Offenbarung und zugleich der Zugang zur Offenbarung der christlichen Liebe durch Jesus.
[6] Novalis, Hymnen an die Nacht, S. 104
[7] Schleiermacher, Friedrich, Über die Religion, Reden an die gebildeten unter ihren Verächtern, Verlag von Felix Meiner, Hamburg, 1958, S. 114
[8] Lorm, Philosophie der Jahreszeiten, S. 283
[9] Lorm, Philosophie der Jahreszeiten, S. 283

Winter-Licht