Von Räumen und Umfriedungen. Vom Bauen, Wohnen und den Menschen.

Raum und SonneRaum und Sonne

Das bewusste Wissen und Empfinden für die Wechselbeziehungen zwischen dem gelebten,  umbauten Raum und dem erfühlten Selbstverständnis der Menschen, ihrer raumbedingten Identität, scheint im Nachkriegs-Deutschland weitgehend verloren zu sein. Zum Einen, weil ein Großteil der gewachsenen und früher Identität gebenden Räume und Bauten zumindest in den Städten schlicht dem Bombenkrieg des Weltkrieges zum Opfer gefallen ist, überwiegend ersetzt durch die funktionalistischen, austauschbaren, aber preiswerten Neubauten der 50er und 60er Jahre. Viele Gebäude, ganze Innenstädte sind sich seitdem zum Verwechseln ähnlich. Zum Anderen, weil das hinter den verbliebenen alten Bauten stehende Empfinden, einer Architektur mit deutscher Geschichte (Klassik, Jugendstil usw.), einer damit einhergehenden gebauten, nationalen Identität auch heute durch zwölf Jahre nationalsozialistischer Herrschaft bis ins Mark diskreditiert wurde. Man denke hierbei etwa an die hochkontroversen Debatten um die Wiedererrichtung des Berliner Schlosses.[1] Die Nivellierung identitätsstiftender gebauter Besonderheiten steht noch immer auf der ideologischen Agenda postmoderner Eliten, auch wenn Tourismus-Büros deutscher Gemeinden den Fortbestand der regionalen und nationalen Eigenheiten in ihren Verkaufsstrategien behaupten und dies den vor Ort betroffenen Menschen wichtig ist.[2]

Die Prägekräfte des Menschen durch den, seinen, Lebens-Raum, durch Bodenbeschaffenheiten, Klima und territoriale[3] Eigenheiten, seine „Behausung“ – mithin Architektur – stellen aber eine wichtige, aus den o.g. Gründen heute wenig beachtete Fragestellung für die Interpretationen menschlicher Seinsweisen dar. Der Psychologe, Nervenarzt und Politiker Willy Hugo Hellpach[4] formulierte bereits 1911 in seinem damals berühmten Buch „Die geopsychischen Erscheinungen“ (ab 1935 unter dem Titel „Geopsyche“), eine „empirisch zusammenfassende und theoretisch durchdringende Darstellung aller Einwirkungen, welche die Seele von Wetter und Klima, Boden und Landschaft her erfährt“. Der den Menschen umgebende Boden, die Bodenbeschaffenheit (Wüste oder Urwald) könne für ihn nicht ohne Belang sein, da er ein „erdgebundenes Geschöpf“ sei.[5] Menschen und Völker leben auf bestimmten Arealen und können im Kollektiv nicht einfach verpflanzt werden. Ethnische Prägungen seien daher nicht von ihrem Wohnort, ihrem Lebensraum, zu trennen.[6] Für den Philosophen Martin Heidegger sind Sein und Mensch immer schon aufeinander verwiesen, bevor der Mensch überhaupt nach diesem Bezug fragen kann.[7] Das Ich steht nicht der Natur, den Objekten, gegenüber, sondern weist immer über sich selbst hinaus auf alles andere Seiende. Wir sind Teil von etwas.

Ähnliches gilt für das Bauen und das Wohnen des Menschen selbst. Menschen bauen Häuser, Umfriedungen (also Orte, an denen Frieden herrscht), grenzen sich ab und gestalten und bestimmen so ihr individuelles und soziales Sein. Die Ummauerung des Nichts, der Luft, schafft einen Raum, den es ohne den Menschen nicht gäbe. Bauen und Wohnen sind demnach ein identitätsmotiviertes und identitätsstiftendes Handeln.[8]

„Das Haus [steht] in der Mitte der Welt … im Gegensatz zur Ferne, als das eigenst Zugehörige, und darum soll man es lieben.“[9]

Die äußere Erscheinungsform des Wohnens ist die konkrete Architektur, in der die Menschen, in sich verändernden Epochen gelebt haben und leben (Renaissance-, Jugendstilbauten usw.). Die resultierende Bebauung repräsentiert eine spezifische Bevölkerung auf einem bestimmten, abgrenzbaren Gebiet zu ihrer Zeit.

„Mit dem einwohnenden Weltverhältnis ist … stets eine interieurbildende Aktivität, eine ent-fernende Praxis (im Sinne von Heideggers) und eine befriedende Kultivierung … verbunden. Wo gewohnt wird, sind Sachen, Symbionten und Personen zu lokalen Solidarsystemen zusammen gefasst. Das Wohnen entwirft eine Praxis der Ortstreue über längere Zeit …. Wohnen schafft ein Immunsystem aus wiederholbaren Gesten; es verbindet das Entlastet-Sein dank erfolgreicher Habitualisierung mit dem Belastet-Sein durch deutliche, wiederholende Aufgaben.“[10]

Die Wertigkeit schützender, abgrenzender Räume, des Wohnens, ist Redewendungen wie „ein Dach über dem Kopf haben“, „unter einem Dach wohnen“ zu entnehmen.[11] Das bauliche Umschließen des freien Raumes als Wohnraum hat auch etwas Sakrales, das besondere Traditionen und Rituale hervorgebracht hat: das Richtfest, die Weihe, den Segen oder das rituelle Überschreiten der Schwelle bei Hochzeit und Einzug.

Im Angesicht der Vervielfältigung entfriedeter orientierungsloser Räume seit dem zweiten Weltkrieg, in einer Kultur der Anywehres[12], die in materieller Selbstüberschätzung glauben, nirgends auf Dauer wohnen zu wollen und der ungesteuerten Zuwanderung ist die Wahrheit des Wohnens heute als individuelles und kollektives Erleben seltener zu erfahren, oft beliebig geworden. Die Destabilisierung der postmodernen, empirischen Realität, ihre vermeintliche „Vielfalt“, schwächt die Selbstwahrnehmung, die Identität der Menschen. Modernes Wohnen ist häufig vereinzeltes Wohnen oder Wohnen in kulturellen Parallelgesellschaften. [13]

„Der Existentialist … bleibt auf der Erde ein ewiger Fremdling, an keinen Ort besonders gebunden, immer unterwegs, aber niemals am Ziel.“[14]

Der heute leerlaufende Progressismus postmoderner globalistischer Eliten ist auch Ausdruck einer endenden Entgrenzung der Räume und des Wohnens. Wir leben in einer Zeit der Rückkehr zum erfahrenen, bewahrten und gelebten Raum – in dem Menschen wohnen.

„Nur als ein Wohnender, nur im Besitz eines Hauses, nur in der Verfügung über einen solchen von der Öffentlichkeit abgesonderten und privaten Bereich kann der Mensch sein Wesen erfüllen und im vollen Umfang Mensch sein. Der Mensch braucht, um überhaupt leben zu können, einen solchen Bereich der Geborgenheit.“[15]


[1] Der Wiederaufbau des Berliner Schlosses erfolgte 2013 bis 2020 – Fassaden im Zustand von 1713 mit der Schlosskuppel von Friedrich August Stüler aus dem Jahr 1853. Der Deutsche Bundestag beschloss 2002 die teilweise Wiedererrichtung des 1950 gesprengten und abgerissenen Schlosses, und damit die Fortsetzung der Wiederherstellung der Historischen Mitte Berlins.

[2]https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/hannover_weser-leinegebiet/Hindenburgstrasse-in-Hannover-heisst-bald-Loebensteinstrasse,aktuellhannover7076.html; Kein ausschließlich deutsches Phänomen: Siehe Küs-ters, Hansjörg, Von Natur, Kultur und Ideen geprägte Landschaften, 2023, S. 45 – 47 zum Nachbarland Nieder-lande.

[3] territorial Adj. ‘das Hoheits-, das Staatsgebiet, einen örtlichen Bereich betreffend, zu ihm gehörig’, Ende 17. Jh. aus spätlat. territōriālis ‘zu einem Gebiet gehörig’. In: Etymologische Wörterbuch des Deutschen; www.dwds.de/

[4] Willy Hugo Hellpach (Pseudonym Ernst Gystrow) war Psychologe, Nervenarzt und Politiker, * 26.2.1877 Oels (Schlesien), † 6.7.1955 Heidelberg. (lutherisch). Als Bildungsminister in Baden ab 1925 erließ er die grundlegen-den Verordnungen zum heute noch existierenden dualen Berufsausbildungssystem.

[5] Hellpach, Willy Hugo, Geopsyche, Die Menschenseele unter dem Einfluss von Wetter und Klima, Boden und Landschaft, Ferd. Enke Verlag, Stuttgart, 1950, S 158

[6] Im digitalen Zeitalter stellt sich die Frage, ob der Wechsel der „Seasons“ im Computerspiel „Fortnite“ prägender für junge Menschen geworden ist, als das Erfahren der analogen Landschaften und Jahreszeiten.

[7] Heidegger, Martin, Sein und Zeit, Max Niemeyer Verlag, Tübingen, 2006, S. 15; Martin Heidegger nennt dies das „vorontologische Seinsverständnis“.

[8] „Nur wenn wir das Wohnen vermögen, können wir bauen. Denken wir für eine Weile an einen Schwarzwaldhof, den vor zwei Jahrhunderten noch bäuerliches Wohnen baute. Hier hat die Inständigkeit des Vermögens, Erde und Himmel, die Göttlichen und die Sterblichen einfältig in die Dinge einzulassen, das Haus gerichtet.“ Heidegger, Martin, Gesamtausgabe, Bd. 7: Bauen, Wohnen, Denken, Klostermann Verlag, Frankfurt a.M., 2000, S. 162

[9] Bollnow, Otto Friedrich, Mensch und Raum, Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart, 1963, S. 124

[10] Sloterdijk, Peter, Im Weltinnenraum des Kapitals, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M., 2005, S. 402; „Ent-fernen“ meint bei Heidegger für den Menschen: das Verschwindenmachen des Abstandes zu etwas: „Das Ent-fernen ist zunächst und zumeist umsichtige Näherung … Im Dasein liegt eine wesenhafte Tendenz auf Nähe.“ Heidegger, SuZ, S. 105

[11] In Deutschland werden 2023 laut einer Studie mehr als 700.000 Wohnungen fehlen: www.zdf.de/nachrichten/ wirtschaft/wohnungsmarkt-mieterbund-100.html

[12] Die „Anywheres“ (im Sinne von: Nirgendwo) sind dadurch gekennzeichnet, dass sie zwar irgendwo wohnen – meist in bestimmten Großstadt-Vierteln – aber so ortsungebunden sind, dass sie jederzeit umziehen könnten. Und das tun sie auch ziemlich häufig. Die gut bezahlten mobilen Angestellten, die Kosmopoliten und Globe-trotter. Die Künstler, Kreativen und Konstrukteure des eigenen Lebens. Die Gebildeten und Bildenden, die Sinn-sucher, Moralisten und Latte-Macchiato-Trinker. Anywheres sind die Gewinner und Bewohner der globalen Urbanisierung. Sie sprechen den Code universalistischer Werte und repräsentieren die kulturelle Hegemonie der multimobilen Großstädter.

[13] Die „Wohnmaschinen“ von Corbusier in den Pariser Vororten, der „Périphérique, sind zu Orten geworden, in denen arabische Parallelgesellschaften das Sagen haben und oft ein Klima der Gewalt herrscht. Ähnlich unwohnliche Orte existieren mittlerweile in allen westlichen Großstädten.

[14] Bollnow, Mensch und Raum, 1963, S. 125

[15] Bollnow, Mensch und Raum, 1963, S. 136