Traum und Träume – Die surreale Wirklichkeit

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„Nichts ist mehr eurer Eigen als eure Träume! Nichts mehr euer Werk! Stoff, Form, Dauer, Schauspieler, Zuschauer, – in diesen Komödien seid ihr Alles ihr selber.“ Friedrich Nietzsche, Morgenröthe, S.117

Es gibt verschiedene Arten von Träumen. Die Tagträumerei hat einen enormen Reiz. Der Tagtraum, dieser Dämmerzustand, ist der unerbittlichen Zeit-Abfolge der Work-Life-Balance entzogen. Der Tagtraum bringt die Tage durcheinander, wie ein Spieler, der die Karten neu mischt, bevor er sie für ein neues Spiel austeilt. Im wachen Erleben kann man die Gegenwart, die andauernd entweicht und genau dadurch bestimmt ist, nicht zum Stillstand bringen. Im Traum, ob tagsüber oder in der Nacht kommen die Abläufe real zum Erliegen, um dann rückwärts und vorwärts, seitwärts in den Bereich alles Möglichen hinein zu dringen.

Die modernen Neurowissenschaften erfassen und bewerten die Hirnaktivitäten schlafender und träumender Menschen. Sie zeichnen sie auf mit eindeutigen Ergebnissen: Auch wenn ein Mensch schläft, ist sein Gehirn hoch aktiv. Während des Träumens sind die für Bewegung, Sinneswahrnehmung und logisches Denken verantwortlichen Hirnregionen zurück gezogen. Sie schlafen traumlos. Aber die für die Gedächtnisinhalte und Emotionen zuständigen Areale arbeiten weiter. Hier liegt der Grund für den anti-logischen und hoch und über-emotionalen Charakter von Träumen. Erleben ohne Selbstbeherrschung. Was für ein verschwenderischer Luxus!

Im digitalen Heute steht die Illusion im Raum durch den Medienkontroller, die digitalen Parallel-Welten, den zeitlichen Stillstand erzwingen zu können – alles soll jederzeit verfügbar sein, rund um die Uhr. Welch ein Irrtum! Die menschliche Träumerei hat einen viel größeren Reiz. Hier vermählen sich Tag und Nacht, Berg und Tal, Wunsch und Form. Eine Wucht für das Eigene mit den Anderen. Die Dinge und ich werden ein und dasselbe Sein, eine neue Einheit, die demjenigen Sein verleiht, was war, was noch nicht da ist, aber sein wird.

Für den französischen Philosophen Maurice Merleau-Ponty gilt der Traum als leibliche Erfahrung, über die der Mensch seine wache Umwelt erschließt. Träume sind für ihn keine rein innerlichen Vorgänge, ohne Kontakt zur Welt. Vielmehr sind sie für unsere Wahrnehmung der Welt konstitutiv – auch dann, wenn sie zunächst als wirre Fantasiegebilde im bewussten Schlaf aufscheinen. Im Traum werden die Grenzen der Wirklichkeit überschritten. Denn die Erfahrung des Möglichen (in der Vorstellungskraft oder im Traum) bildet, so Merleau-Ponty, die Basis für die Wahrnehmung des Wirklichen. Es bedarf der Surrealität des Traums, um die Realität des Wachlebens zu verstehen. Welch ein Luxus!

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